Es war die Nacht vor Heiligabend. Sonja kuschelte sich an ihre Plüschmaus Fluffy und sah ihre Mutter aus großen Augen an. Diese schenkte ihr ein strahlendes Lächeln, ganz so, als hätte sie ein Geheimnis.
"Schlaf jetzt, mein Liebling", sagte die Mutter und strich ihr noch ein letztes Mal übers Haar. "Oder willst du, dass der Weihnachtsmann dir in diesem Jahr keine Geschenke bringt, nur weil du noch wach bist und Schäfchen zählst?"
"Hm, nööö ...", antwortete Sonja. Sie hatte große Angst vor dem Weihnachtsmann: Jemand, der durch enge Schornsteine in die Häuser fremder Leute kletterte, um sich dort an Milch und Keksen zu laben, war ihr unheimlich. Und der Weihnachtsmann drang sogar in Wohnungen mit Zentralheizung und Gegensprechanlage ein! Das wusste Sonja genau, ihre beste Freundin Marie hatte es ihr erst gestern erzählt.
Die Mutter schickte Sonja einen Luftkuss und löschte das Licht, bevor sie die Tür hinter sich zuzog. Sonja lag im Dunkeln und lauschte ihren Atemzügen. Ein, aus, ein, .... Wie düster und fremd ihr das Kinderzimmer plötzlich erschien! Die Schatten der Möbel nahmen märchenhafte, gruselige Züge an. Der Kleiderschrank zeigte ihr die Zähne und die kleine Lampe auf ihrem Nachttisch schien ihr wissend zuzunicken. Dies war keine Nacht wie alle anderen.
Schneeflocken tanzten wie betrunkene Kinderärzte vor dem Fenster und warfen wunderliche Lichtreflexe auf die Wände. Die Märchenfiguren auf der Kinderzimmertapete schienen zu einem eigenen Leben zu erwachen.
Höhnisch grinsten sie Sonja an und machten sich über ihre Angst vor dem Weihnachtsmann lustig.
Draußen pfiff der Wind um die Hausecken. Huiiiiiiiii!
Sonja drückte Fluffy enger an sich und tröstete sie. "Du brauchst keine Angst zu haben, ich bin ja bei dir. Das ist nur der Wind, der so unheimliche Geräusche macht." Vorsichtig streckte sie ihre kleinen kalten Zehen unter der Steppdecke aus und entspannte sich ein wenig.
Fluffy lächelte sie beruhigend an.
Da kratzte etwas am Fenster.
Sonja zuckte zusammen und wollte nach der Mutter rufen. Aber sie bekam keinen Ton heraus. Sie starrte auf die wirbelnden Schneeflocken vor dem Fenster. "Ist ... ist da jemand?", fragte sie mit piepsigem Stimmchen.
Für einen kurzen Moment vereinten sich die kreiselnden Flocken zu dem bleichen Gesicht eines rundköpfigen Mannes mit weißem Bart, pelzbesetzter roter Mütze und ebenso roten, glühenden Augen.
Huiiiiiiiii!
Sonja hörte, wie Mami und Papi sich im Badezimmer auf die Nacht vorbereiteten. Dann gingen auch sie zu Bett. Ein paar Minuten lang hörte Sonja ihre Eltern noch flüstern und kichern. Ihre Stimmen klangen seltsam gedämpft, wie durch eine dicke Watteschicht. Sprachen sie über Sonja? Was hatten sie vor?
Die Zeit schien ebenso zähflüssig dahinzufließen wie Tante Ellens Birnensirup. Lange, lange, nachdem das Haus in Schweigen versunken war, schob Sonja vorsichtig ihre Bettdecke zurück. Sie trug einen gelben Frotteeschlafanzug, so gelb wie ihre krausen Haare. Sie presste Fluffy eng an die Brust und huschte lauschend zur Tür. Sachte drückte sie die schimmernde Klinke herunter und schob sich in den dunklen Flur.
Mit Fluffy in den Armen tapste Sonja über das nachtkalte Linoleum. Aus dem Elternschlafzimmer klang leise Papis Schnarchen. Sonja schlich an der Tür vorbei und stieg die Treppe hinunter ins Wohnzimmer.
Die Lichterkette an der Terrassentür verwandelte den Raum in eine kalte, unwirkliche Welt, die jederzeit bereit schien, ein kleines Mädchen zu verschlucken. Das Flackern der Lichter warf eckige Schatten über die Möbel. Unter dem festlich geschmückten Weihnachtsbaum lauerten unzählige bunte Päckchen und Pakete. "Sieh nur, Fluffy! Der Weihnachtsmann war schon da!"
Sonja lief auf den Baum zu. Ihre nackten Füßchen traten in etwas Kaltes, Klebriges. Sie trat beiseite und bückte sich. Vor Schreck blieb ihr die Luft weg: Sie war in einen schlammigen Fußabdruck getreten. Der Abdruck war riesig! Papi hatte schon große Füße, Schuhgröße 45, aber dieser Abdruck hier war mindestens doppelt so groß! Sonja entdeckte weitere Fußspuren auf Mamis Berberteppich. Wachsam tastete Sonja sich am Ohrensessel entlang zum Kamin und blickte misstrauisch in den Rauchfang.
Etwas raschelte. Eine dicke Rußflocke fiel herunter und verfing sich klebrig in ihrem Haar. Sonja zuckte zurück. Ein Scharren an der Haustür ließ sie herumfahren. Mit vor Schreck geweiteten Augen und offenem Mund ging sie wie eine aufgezogene Puppe zur Tür. Sie hatte einen Glaseinsatz, hinter dem ein Schatten tanzte. Sonja spähte ängstlich hinaus und sah eine große, dunkle Gestalt im roten Mantel, die in den verschneiten Garten lief.
Die Schneeflocken verdichteten sich zu einem weißen Vorhang. Sonja stand zitternd vor der Tür und blickte abwechselnd hinaus und auf den feierlich nach Äpfeln, Zimt und Schokolade duftenden Weihnachtsbaum.
Skeptisch musterte sie die glitzernden Päckchen. Was da wohl drin war?
Welche Geheimnisse warteten unter dem fröhlich bedruckten Papier auf sie? Sonja hob Fluffy hoch und zeigte hinaus in den Garten. "Siehst du, Fluffy? Da draußen ist nichts, wovor wir Angst haben müssen. Der Weihnachtsmann ist lieb!"
Im verschneiten Garten, hinter den knorrigen Stämmen der Apfelbäume, hüpfte der Weihnachtsmann auf und ab wie ein Känguru. Trotz ihrer Angst kicherte Sonja und drückte ihr Näschen neugierig gegen die Scheibe. Der Weihnachtsmann stoppte seinen Tanz, sah zu Sonja hinüber und grinste.
Dann winkte er ihr zu, zu ihm zu kommen und mit ihm zu spielen.
Sonja klemmte Fluffy unter den Arm und schob den Riegel der Haustür zurück. Der Weihnachtsmann tanzte nun einen schnellen Foxtrott, so wie Mami und Papi bei Opas letztem Geburtstag. Vor und zurück schob er sich über den Schnee und wirbelte dabei einen großen schwarzen Sack über seinem Kopf.
Huiiiiiiiii!
Sonja lachte und lief in den Garten hinaus. Hinter ihr schloss sich mit einem leisen Klicken die Tür.
Huiiiiiiiii!
Der gefrorene Schnee schnitt Sonja in die Füße. Kälte zog ihre Beine hoch und ein eisiger Wind zerrte an ihrem Schlafanzug. Sie merkte erst jetzt, dass sie keine Pantoffeln trug. Am liebsten hätte sie geweint.
Aber ihre Angst war zu groß. Die Schneeflocken wirbelten jetzt so dicht um das Haus, dass Sonja den Weihnachtsmann nicht mehr sehen konnte. Aber sie wusste, dass er noch immer da war, dort hinten im Garten!
Sie musste ihn finden. Er würde ihr helfen, wieder ins Haus zu kommen.
Er war doch der Weihnachtsmann! Sonja zitterte vor Kälte. Unsicher lief sie über den schneeverkrusteten Rasen, um den Weihnachtsmann zu suchen.
Als sie zu den Apfelbäumen kam, drehte sie sich zum Haus um und sah rot flackernde Lichter. Dichte Rauchwolken quollen unter der Haustür hervor.
Sonja blickte hinauf zum Dach. Auf dem Giebel tanzte der Weihnachtsmann, zeigte ihr eine lange Nase und verschwand hinter dem Kamin. Sonja schluchzte. Die Kälte fraß sich unerbittlich in ihr warmes Fleisch. Das letzte, was Sonja sah, bevor ewige Nacht ihren kleinen Geist umfing, war der rot züngelnde Vorhang der Flammen, die das Haus umhüllten.
Am nächsten Morgen stocherte eine Gruppe ernst blickender Feuerwehrleute in den verkohlten Überresten. Sie waren auf der Suche nach dem Brandherd. Sonja wurde nur zufällig gefunden, weil einer der Männer über Fluffy stolperte. Der Schnee hatte ihren gefrorenen kleinen Körper völlig zugedeckt.