"Soll ich mitgehen, den Baum kaufen, Siggi?" Sie kommt aus dem Bad und lächelt mich an.
"Nein, lass mal, Rosemarie, ich mach das schon. Öffne uns doch schon mal eine Flasche Wein. Und sei doch so nett und versuch noch mal, unsere Kinder zu erreichen. Die können das Handy doch nicht die ganze Zeit ausgeschaltet haben."
Ich gebe ihr einen Kuss und gehe zum Auto hinunter.
Bevor ich den Weihnachtsbaum kaufen fahre, will ich Euch eine Geschichte von einem anderen Weihnachten erzählen:
Damals hätte ich nur über die Straße gehen zu brauchen, um einen Weihnachtsbaum zu kaufen. Das Dumme war: ich brauchte keinen.
Da, wo bis gestern, ach was, bis heute Mittag für die allerletzten Nachzügler, die Weihnachtsbäume gestanden hatten, war jetzt gähnende Leere zwischen den Häusern. Ich hatte sie völlig vergessen, diese hässliche Lücke, die nach Erfüllung schrie, ich hatte mich an den freundlichen alten Mann gewöhnt, der für jeden seiner oft sehr hektischen Kunden ein freundliches Wort fand.
Ich kratzte ein wenig Eis von der Scheibe meines Wagens, gerade genug, dass ich die ersten Kilometer gefahrlos überstehen konnte, bis die Heizung ihr Werk tun würde, stellte die Taschen mit den Geschenken in den Fußraum vor dem Beifahrersitz und stieg ein. Ein trauriges Weihnachten: das erste nach unserer Trennung. Brigitte hatte mir im Herbst auf Juist, am Ende unseres gemeinsamen Urlaubs, offenbart, dass sie nach Barcelona ziehen würde. Sie könne in dieser provinziellen Enge Wuppertals nicht länger leben. Anstatt mit mir darüber zu reden, ob wir meinetwegen nach Düsseldorf ziehen sollten oder sonst wohin. Als sie ihre Koffer gepackt hatte und verschwunden war, steckte mir Luisa, ihre Freundin, was Sache war. Eugenio hieß ihr Neuer, sie hatte ihn auf einer Messe kennengelernt. Aber das ist eine andere Geschichte.
Ingrid und Karl hatten mich eingeladen, als wir uns das letzte Mal bei mir gesehen hatten. Kurz nachdem Brigitte ihre allerletzten Sachen abgeholt hatte.
"Du sollst nicht da alleine herumsitzen und Trübsal blasen", hatte Ingrid gesagt und mich in den Arm genommen. Und Karl hatte mir zugezwinkert "Du kannst auch bei uns schlafen, ich habe einige gute neue Whiskys da."
Ich hatte die beiden lange nicht mehr besucht. Zuletzt mit Brigitte im Frühjahr in ihrer alten Stadtwohnung. Es gab inzwischen die Einteilung "vor Brigitte" und "nach Brigitte". "Mit Brigitte" versuchte ich auszublenden. Manchmal gelang es mir. Meistens nicht, wie eben jetzt.
Seit dem Sommer wohnten die beiden draußen in Wülfrath, einem kleinen Kaff zwischen Wuppertal und Mettmann, auf einem alten Bauernhof. Ich war noch nie da gewesen, aber das Internet hielt ja für solche Menschen ohne Navigationsgerät wie mich eine Lösung parat. Ich legte das Klemmbrett mit der Wegbeschreibung auf den Beifahrersitz und startete.
Der Wetterbericht war etwas unentschieden gewesen. Anfangs hatte es geschneit, dann schien die Sonne, und dann stürzte die Temperatur rapide ab. Es war glatt. Ich fuhr langsam die Schwesterstraße hinauf Richtung Autobahn. Die Sonne verschwand gerade zwischen den Häusern. Nur wenige Autos kamen mir entgegen.
Um mich abzulenken - meine Gedanken kreisten in den letzten Tagen wieder verstärkt um Brigitte und mein Verlassensein, und ich war dankbar für die Einladung - malte ich mir aus, was es Leckeres geben könnte. Ingrid hatte am Telefon nichts darüber verraten, mir nur berichtet, dass sich noch ein Pärchen aus Italien angesagt hatte, und sie alles umstellen müsse. Und dann hatte sie so unverschämt gekichert, wie nur sie es fertig brachte, kieksend und glucksend in einem, fast eine Minute lang.
Auf WDR2 lief die ganze Liga der Pop-, Rock- und Soulchristmassongs. Zwischendrin, bei den Toten Hosen, sang ich lauthals mit und erinnerte mich an ein Weihnachtskonzert, noch ohne Brigitte, als Campino in der Philipshalle fast an der Decke kopfunter hing und sich die Kehle aus dem Leib brüllte. Auch er war ruhiger geworden. Und jetzt sogar Vegetarier, hatte ich gelesen. Nichts für mich, dachte ich, und vor meinem inneren Auge erstanden Enten, Gänse, Rehbraten und was es sonst typischerweise an Weihnachten gab.
Während bei uns meine Mutter immer Kartoffelsalat mit Würstchen an Heiligabend aufgetischt hatte, eine alte ostpreußische Sitte und eines der wenigen Relikte aus ihrer alten Heimat, tummelte sich Brigittes Mutter grundsätzlich seit zwei Tagen vor Heiligabend in der Küche, um die diversen Weihnachtsmenüs hintereinander zu bekommen. Allen Diskussionen in der Familie zum Trotz bestand Brigittes Vater auf den immer gleichen Ritualen, die seiner Frau mit zunehmendem Alter das Letzte abforderten. Aber das war ihm egal. Heiligabend hatte es Gans zu geben, mit Rotkohl und Klößen. Selbstgemachten natürlich. Ich sah die runzligen Hände von Maria, Brigittes Mutter, die es sich nicht nehmen ließ, die schwere Arbeit zu machen, Jahr für Jahr, wie ihr Mann es erwartete. Ich sah sie den Pinsel in die Gewürzmarinade tauchen und die Gans bestreichen, während der Rotkohl im Topf wartete. Natürlich war er schon am Abend vorher fertig geworden, aufgewärmt schmeckte er einfach besser. Wenn ich an Maria dachte, tat es mir besonders leid, aber die Tatsache, dass ich ihren Mann nicht mehr ertragen musste, war das einzig Positive an der Situation.
Scheiße, das war alles vorbei. Ob Brigitte ihre neue Eroberung schon zu Weihnachten mit nach Hause ...?
Ich musste bremsen und verscheuchte damit meine unsinnigen Gedanken. Eine alte Frau kam über die Straße gehumpelt, ohne nach links oder rechts zu schauen. Hinter ihr sah ich die offene Kirchentür, aus der noch Orgelklänge wehten. Ich stellte den Wagen am Straßenrand ab, stieg aus und sprach das Mütterchen an: "Frohe Weihnachten, darf ich Ihnen über die Straße helfen? Oder haben Sie es weit? Soll ich Sie nach Hause bringen?"
Sie reagierte nicht. Erst als ich sie am Arm fasste, sah sie mich mit erschreckten Augen an und zuckte zusammen. Offenbar war sie schwerhörig. Ich setzte mein schönstes Lächeln auf und rief noch einmal: "Frohe Weihnachten. Soll ich Sie nach Hause bringen? Sie wären mir beinahe vors Auto gelaufen!"
Sie schüttelte den Kopf und stapfte weiter. Ich sah mich um, hielt die Hand nach oben, da gerade ein Auto herangeprescht kam und ging neben ihr auf die andere Straßenseite. Als wir dort ankamen, drehte sich die alte Frau plötzlich zu mir und sagte: "Junger Mann, danke schön, und frohe Weihnachten. Aber ich schaff das schon." Und sie hielt mir ihre schrumpelige Hand hin, lächelte, als ich sie ergriff, nickte mir noch einmal zu und ging dann weiter. Gebückt und mit ihrem Gesangbuch in der Hand.
Ich stieg wieder in meinen Wagen und sah ihr nach, wie sie um die Ecke verschwand. Weihnachten. Wie mochte sie mit ihrer Einsamkeit klarkommen? Sicher war sie sie schon seit Jahren gewohnt. War ihr Mann im Krieg geblieben? Hatte sie Kinder und Enkelkinder, die womöglich in fernen Städten lebten? Und hatte sie es aufgegeben, sich nach der weihnachtlichen Gemeinsamkeit zu sehnen? Ich würde es nie erfahren.
Ich startete und bog um die Kurve Richtung A 46. Als ich auf der leeren Autobahn fuhr, wanderten meine Gedanken wieder zu den möglichen Leckereien des heutigen Abends. Vor Jahren hatte ich einmal mit meinen heutigen Gastgebern an Heiligabend zusammen gekocht. Ein Freund aus dem Ruhrgebiet, Jäger seines Zeichens, hatte eine Rehkeule gestiftet, von eigenem Abschuss, wie er stolz berichtete. Und hatte uns minutiös geschildert, in welcher Situation, von welchem Hochsitz aus, und was der Details mehr waren, er das Tier erlegt hatte. Mich hatte nur interessiert, nach welcher Methode wir es zubereiten würden. Ich hatte mich mit Karl abgesprochen, und wir gingen mit zwei Flaschen von seinem Hausroten ans Werk. Als wir allein in der Küche waren und die Keule aus der Rotweinmarinade, in der sie drei Tage verbracht hatte, befreiten, raunte er mir zu, er sei auch froh, dass wir jetzt unter uns seien. Denn Alwin, so heißt unser Freund, könne zwar einigermaßen schießen, jedoch nicht kochen, was er aber ständig in Abrede stellte. Zur klassisch geschmorten Keule, mit einer exzellenten Sauce aus ordentlich reduziertem Wildfond, mit Sahne verfeinert, gab es dann glacierten Rosenkohl und Serviettenknödel. Die Beilagen hatte ich mir gewünscht, weil ich sie zu Hause nie bekam.
Ich war so in meine Gedanken verstrickt, die Vorstellung der Sauce startete gerade den Generalangriff auf meine Geschmackspapillen, dass ich beinahe im Graben gelandet wäre. Inzwischen hatte ich die Autobahn verlassen, kurz angehalten und mich des Weges versichert. Und plötzlich ertrank ich in blau kreisendem Licht und sah vor mir lodernde Flammen aus einem Fachwerkhaus schlagen. Ich stoppte und ließ die Fahrzeuge der Feuerwehr vorbei. Immer, wenn im Fernsehen von den klassischen Weihnachtsbaumbränden berichtet wurde, war ich gewillt, das für publikumswirksame Enten zu halten. Man konnte doch nicht so doof sein und gleich am ersten Abend ...
Hier war es offensichtlich der Fall. Ich stieg aus, zog mir den Mantel über und wagte ein paar Schritte in Richtung der Katastrophe. Es hatten sich schon ein paar Schaulustige eingefunden.
"Was ist denn hier los?", fragte ich ganz harmlos.
"Na, das sehen Sie doch. Der Alfred hat wahrscheinlich mit besoffenem Kopf den Baum umgeschmissen."
"Aha", meinte ich, "Sie kennen die Betroffenen?"
"Ja sicher. Ist doch mein Nachbar. Hat Pech gehabt, der Mann. Letztes Jahr ist ihm die Frau weggelaufen, die Kinder hat sie mitgenommen, und er saß da. Mit dem Haus, den Schulden, mit allem. Sie sind aber nicht von hier?"
Der Mann musterte mich. Blickte dann aber wieder gebannt auf die Flammen. Die Feuerwehr hatte sich postiert, die ersten Schläuche angeschlossen und ausgefahren und machte sich an die Arbeit.
"Ne, ich will Freunde hier in der Nähe besuchen. Frohe Weihnachten, übrigens. Hoffentlich kriegen die das hin!"
"Ja, sicher, frohe Weihnachten, und nichts für ungut." Der Mann hielt mir die Hand hin. Ich schlug ein, und wir starrten auf den Ort des Geschehens. Man kann nichts dagegen machen, Feuer ist einfach so archaisch, das will man aufsaugen, als gäbe es morgen nichts mehr davon. Auch wenn ich heute nur mein Feuerzeug anschnipsen muss, das ich im Auto habe. Wenn es denn noch Gas hat. Ich meine, ich rauche eigentlich nicht mehr, und das Feuerzeug liegt seit Ewigkeiten da, unbenutzt.
Plötzlich stieß mich mein Nachbar in die Seite. "Sind Sie fit?"
Ich musste ihn sehr erstaunt angesehen haben. Er lachte kurz auf, zeigte zu der Häuserecke rechts von uns und rief "Der Alfred, komm, wir müssen ..." und war weg mit einem anderen Mann, mit dem er sich unterhalten hatte. Ich wunderte mich im Laufen zwar, dass er ausgerechnet mich angesprochen hatte. Vielleicht sah ich aber doch unverbrauchter aus als die Umstehenden, war mit dem Auto gekommen, also wohl noch nüchtern, und er kannte seine Pappenheimer. Egal. Es tat mir gut, das Gefühl, gebraucht zu werden.
Als ich um die Ecke bog, standen die beiden mit einem Dritten da und versuchten, ihn zu beruhigen. Er fuchtelte ständig mit den Händen herum und wies nach oben. An einer der kleinen Fensterscheiben entdeckte ich ein tränenverschmiertes Kindergesicht. Dahinter loderte es rot und warf dramatische Schatten auf die Kleine. Mein Nachbar sah zu mir hin, winkte mich heran und schrie in den Lärm des Löschtrubels, der das Haus umtoste: "Marie hat Alfred eins seiner Kinder zu Weihnachten vorbeigebracht, die kleine Olga. Sie sollte oben warten, bis er den Baum ... Ach egal, pass mal auf Alfred auf, wir holen eine Leiter!"
Der andere drückte Alfreds Hand in meine, und die beiden liefen zu dem Schuppen hinter uns. Alfred wollte sich losreißen und ihnen hinterher, aber ich schaffte es, ihn festzuhalten. Währenddessen heulte er wie ein ganzes Rudel Schlosshunde, seine grauen Locken hingen ihm wirr ins Gesicht. Sein Atem an meiner Schulter roch nach Bier und Stärkerem. Der Nachbar, dessen Name ich nicht wusste, hatte wohl recht gehabt.
Die Zeit wurde mir lang. In solchen Situationen dehnen sich Sekunden wie sonst kaum. Die beiden mussten doch endlich kommen! Ich blickte wieder zu dem Fenster, während ich Alfred mit meinen Armen umfasst hielt, irgendetwas auf ihn einredete und sein Schluchzen spürte. Das Mädchen, Olga, hatte die kleinen Hände an die Scheibe gepresst und bewegte seine Lippen. Ein Bild, das in jedem Fotowettbewerb den ersten Preis gemacht hätte. Halten Sie mich nicht für zynisch, aber eigentlich bin ich Fotograf und kein Alfred-Therapeut, und solcherart Betrachtung schützt einen manchmal vor Handlungsunfähigkeit.
Auf einmal kamen zwei Feuerwehrleute um die Ecke und wollten uns wegscheuchen. Ich zeigte mit einer Hand nach oben, die andere hielt den mittlerweile fast wehrlosen Alfred an seiner Jacke fest. "Der Vater", rief ich, "ich hab das im Griff". Die beiden anderen erwähnte ich lieber nicht, kam auch gar nicht dazu, denn die zwei Feuerwehrmänner waren im Nu wieder weg. Wahrscheinlich, um auch eine Leiter oder einen Leiterwagen zu holen.
Kaum stand ich mit dem heulenden Vater wieder alleine da, schleppten die beiden Nachbarn eine alte Leiter heran. Sie lehnten sie an das Haus, der eine hielt sie unten fest, und mein Gesprächspartner von vorhin kletterte langsam hoch. Er würde oben angekommen schnell und präzise handeln müssen, es war eine diffizile Aufgabe. Die Scheiben zwischen den Sprossen der alten Fenster waren klein, und wenn er eine von ihnen einschlug, würde der Luftzug die Flammen um Olga herum auflodern lassen. Er konnte nicht darauf hoffen, dass die Kleine ihm half, sicher war sie vor Angst paralysiert. Aber sie war schon so groß, dass er das Fenster ganz würde öffnen müssen, um sie durchzubekommen. Und das konnte wertvolle Sekunden dauern. Die Rationalisierung des Problems half mir, mit der Anspannung fertig zu werden.
Alfred hatte sich inzwischen aufgerichtet. Er weinte immer noch vor sich hin, wischte sich auch ab und zu mit dem Ärmel seiner Jacke durchs Gesicht. Aber er war ruhiger geworden. Er hatte offenbar begriffen, dass er die Lösung der Schwierigkeiten, die er geschaffen hatte, den anderen überlassen musste. So hat er mir das später einmal erzählt.
Gerade als die Feuerwehr mit Gerät wieder um die Ecke bog, klirrten oben die Scheiben. Ich hielt den Atem an. Alfred riss sich los und rannte auf die Männer zu, die herumbrüllten, was Amateure hier zu suchen hätten.
Und dann stand Walter, so hieß er, mit der verheulten Olga bei uns und lud sie Alfred, den ich noch davor bewahrt hatte, sich mit den behelmten Männern anzulegen, auf die Arme. Als ich die beiden glücklichen Gesichter sah, als ich Alfreds Gemisch sah aus befreitem Weinen, albernem Lachen und tausenden von Küssen, mit denen er Olgas strahlendes Gesichtchen bedeckte, spürte ich bei aller Freude einen Stich in meiner Brust. Ich gönnte den beiden die Erinnerung an ein Weihnachten, das sie nie vergessen konnten, und das sie sicher fest aneinander ketten würde. Aber ich war ein wenig traurig, mein Alleinsein stieß mir wieder auf, und ich wünschte nichts sehnlicher, als dass ich irgendwann einmal auch so ein Wesen an mich drücken könnte, das mich mit solchen Kinderwagenrädern von Augen anlächelte.
Ein Weilchen standen wir noch beieinander, und ich rauchte die erste Zigarette seit über zwei Jahren. Walter und Hans, so hieß der andere, drückten mir die Hand und dankten mir für die Hilfe. Ich winkte ab, aber insgeheim war ich stolz. Wenn ich Alfred nicht festgehalten und beruhigt hätte, wer weiß, welchen Blödsinn er noch angestellt hätte. Und Alfred und Olga nahmen mir das Versprechen ab, sie demnächst zu besuchen, wenn sie wieder eine funktionierende Bleibe hätten. Fürs erste würden sie bei Walter unterkommen.
Bevor ich in mein Auto stieg, flüsterte Alfred Olga noch etwas ins Ohr sie beugte sich von seinem Arm vor und drückte mir einen schmutzigen Kuss auf die Backe.
Ich winkte ihnen zu, rief "Bis bald" und machte, dass ich zu meinen Freunden kam. Auf der restlichen Fahrt beschloss ich, dass ich mindestens eine Ente, oder was es sonst Feines gab, alleine vertilgen würde.
Ingrid und Karl hatten sich schon Sorgen gemacht. Schließlich war im Radio mehrfach Glätte gemeldet worden. Und mein Handy hatte im Auto gelegen, ich wollte ja eigentlich nur ganz kurz gucken. Aber nun saßen wir alle am Kamin, stießen mit dem ersten Glas Rotwein an, einem 96er Haut-Medoc, der genau die richtige Zeit zum Atmen gehabt hatte durch meine verspätete Ankunft, und ich erzählte meine neuesten Abenteuer. Henrike und Rudolf, die Freunde aus Italien, erwiesen sich als ausgesprochen nett, und jetzt fehlte mir nur noch ein opulenter Weihnachtsbraten zu meinem Glück. Meine Fragen danach stießen allerdings immer noch auf Granit, Ingrid meinte "Warte noch ein kleines bisschen". Ich war nur erstaunt, nichts von den klassischen Bratengerüchen zu erspüren.
Als ich gerade einen Generalangriff zur endgültigen Aufklärung des Menüs starten wollte, bollerte es an der Haustür.
"Das gibt es doch gar nicht, wer verirrt sich denn heute Abend hier heraus?" Karl nippte an seinem Glas und sah Ingrid an. Die schüttelte den Kopf, wies auf das Fenster, wohinter dichte Schneewolken trieben im mageren Licht der beleuchteten Gestelle, Esel, Krippe, Ochse.
"Karl. Mein Lieber, da alle Eingeladenen hier sind, kann es nur jemand sein, der Probleme hat. Geh´, mach´ auf, es ist Weihnachten, du alter Brummbär."
Karl murrte noch ein wenig herum, aber wir durchbohrten ihn alle mit vorwurfsvollen Blicken. Er erhob sich schließlich, setzte das Glas vorsichtig ab und schlurfte zur Tür. Wir hörten ein Hin und Her, dann rief er "Siggi, Rudolf, kommt doch mal, wir müssen anpacken."
Ingrid lachte. "Sicher jemand mit einer Autopanne. Also los Jungs, und danach gibt es dann Essen, zur Belohnung." Sie hakte Henrike unter, und die beiden verschwanden in der Küche.
Rudolf sah mich an, zuckte mit den Schultern und ging zur Tür, die auf den Flur führte. Dort standen seine mit Zeitungspapier ausgestopften Wanderstiefel. Henrike und er waren nachmittags noch zwei Stunden im Wald gewesen.
Ich versuchte, noch einen Blick in die Küche zu erhaschen, aber Ingrid war auf der Hut und drückte mir mit den Worten "Erst die Arbeit, mein Lieber, nichts da" die Tür vor der Nase zu. Dann drehte sich der Schlüssel im Schloss. All mein Maulen, ich hätte doch heute schon Höchstleistungen vollbracht und wollte nur ganz kurz mal schauen, nützte nichts. Ich hörte das Kichern der beiden und ergab mich in mein Schicksal.
Draußen standen Karl und Rudolf mit jemand, der in einem wattierten roten Anorak mit riesiger Kapuze mit Fellrand verpackt war, an einem alten Käfer und debattierten. So ein Vehikel hatte ich seit Jahren nicht gesehen. Vier verschiedenfarbige Kotflügel, mit Klebeband abgedichtetes Stoffverdeck, die Sitze auch nicht mehr in Bestform.
"Was gibt es denn? Kann euch der Automeister Siggi unter die Arme greifen?"
Karl zeigte mir den Vogel, sagte dann lachend zu der hilfesuchenden Person gewandt: "Während seines Studiums hat er mal einen Auspuff bei seiner Ente gewechselt, und seitdem meint er, er hätte Ahnung von Autos."
Die Person drehte sich zu mir, fuhr sich mit dem Ärmel durchs Gesicht, und dann war es um mich geschehen. Ich hörte zwar noch, dass sie mir erklärte, der Wagen sei plötzlich stehen geblieben und spränge nicht mehr an. Und da hätte sie gedacht, vielleicht könne ihn jemand anschieben. Hörte mich durch den feinen Nebel der Schneekristalle antworten, sicher, wir würden unser Bestes geben, aber sie könne doch auch sonst mit hereinkommen, es sei doch Weihnachten ...
Karl berichtete mir später, er und Rudolf und dann auch Ingrid und Henrike hätten sich nur noch wissend und staunend angesehen. Ich hätte nur noch Augen und Ohren und was sonst noch alles, dabei grinste er unverschämt, für die Frau gehabt, die sich nach kurzen Versuchen, den Wagen wieder flott zu bekommen, verschämt aus ihrem Anorak schälte, aber mittels Wein und Essen zusehends auftaute.
Es gab übrigens Trüffel. In allen Variationen und in solchen Mengen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Die beiden Wahlitaliener sind Vegetarier, deshalb musste der Essensplan umgestellt werden. Und sie hatten gleich für die Basis gesorgt. Sie sind sehr gut mit einem Trüffelsucher befreundet. Mich focht das alles nicht an. Ich sah nur noch sie. Und sie strahlte und sagte: "Das ist ja toll, da habe ich immer von geträumt. Ich bin nämlich auch Vegetarierin, aber so etwas kann ich mir normalerweise nicht leisten."
"Na wie schön, Rosemarie, willkommen, dann sind wir ja quasi komplett", grinste Ingrid mit einem Seitenblick auf mich und hob das Glas.
So, das war meine Geschichte für heute. Jetzt muss ich aber sehen, dass ich den Baum gekauft bekomme. Rosemarie wird sonst sauer, und wir haben doch Weihnachten.