Es gibt Augenblicke in unserem Leben, die auf einen Schlag alles verändern! Manche dieser emotionsbeladenen Momente heben uns in den Himmel und vermitteln der betreffenden Person das Gefühl unsterblich zu sein. Andere wiederum zwingen uns in die Knie und wir müssen erkennen, dass nichts auf dieser Welt ewig währt. Als Susanne ihre beste Freundin, sie lernten sich bereits im Kindergarten kennen, an einem heißen, drückenden Sommertag, im Juli 1964, zum Bahnsteig 4 des Koblenzer Hauptbahnhofes begleitete, ahnte diese noch nicht, dass Nadine innerhalb der nächsten Stunde durch ein schweres Bahnunglück ums Leben kommen würde. Nadine hatte ein Stipendium der "Oxford University" erhalten, womit nun einige aufregende Monate auf sie zukamen. Der Schnellzug sollte sie eigentlich sicher zum Kölner Hauptbahnhof befördern. Von dort aus würde es nonstop weiter, zum Flughafen Köln - Bonn, gehen. Mit gepackten Koffern stand sie also in Begleitung ihrer Busenfreundin auf Gleis 4 und wartete auf den einfahrenden Zug. Der aufkommende Wind und der langsam dunkler werdende Horizont waren die ersten Vorboten eines angekündigten Unwetters. Als der Zug schließlich mit lautem Getöse den Bahnsteig erreichte, verabschiedeten sich die Freundinnen bereits das dritte Mal voneinander. Nur schweren Herzens trennten sie sich am heutigen Tag, doch was waren schon 6 Monate, gegen all die gemeinsamen Jahre, die Kindheit und die Jugend, die sie miteinander verbracht hatten. Nadine wusste bereits, welche Zugverbindung sie kurz vor Weihnachten zurück nach Koblenz führen würde, wenn alles so lief wie geplant, könnten sich die beiden am 22. Dezember um 8.30 Uhr, auf demselben Gleis erneut in die Arme schließen. Schnell drückte ihr Susanne eine hastig dahin gekritzelte Nachricht in die geöffnete Hand. Nadine senkte ihren Blick und las: "Ich bin Ihr Chauffeur Madame, und erwarte Sie am 22. Dezember um 8.30 auf Gleis 4, bitte halten Sie den Zugführer zur Pünktlichkeit an, damit wir das Weihnachtsfest wie jedes Jahr gemeinsam verbringen können!!" "Susanne, ich kenne die Zugverbindung, was"!!?? Ehe Nadine den Zettel, mit der Aussage ihn sowieso früher oder später zu verlieren, in den nächsten Mülleimer befördern konnte, schloss Susanne ihre Hand um die Faust ihrer Freundin und bat sie die Nachricht zu behalten. Während Nadine in den sich langsam füllenden Zug einstieg und ihrer Freundin noch ein schiefes Lächeln zuwarf, überlegte sie, warum Susanne ihren nächsten Treffpunkt noch einmal notiert hatte. Nichts auf dieser Welt könnte sie jemals davon abhalten am 22. Dezember hierher zurückzukehren …
Die Nachricht traf sie vollkommen unvorbereitet. Der Song im Radio gefiel Susanne, aus diesem Grund war es noch eingeschaltet, als das Lied nach nur 40 Sekunden unterbrochen wurde. Die Nachrichtensprecherin erwähnte etwas von einem tödlichen Unfall. Ein Zug aus Koblenz sei wegen eines umgestürzten Baumes, auf Höhe Remagens aus den Gleisen gesprungen und seitlich von den Schienen gekippt. "Es tut uns leid, den Hinterbliebenen der Opfer nun sagen zu müssen, dass kein Passagier die Kollision der Bahn aus Richtung Koblenz über Remagen nach Köln, mit einem vom Unwetter auf die Gleise getriebenen Baumstammes, überlebt hat. Der Zug, welcher um 9.30 den Koblenzer Hauptbahnhof verließ, prallte um ca. 9.55 mit dem Stamm einer mächtigen Tanne zusammen, geriet in Schieflage und begrub die Mitreisenden unter sich. Es steht wirklich außer Frage, dass alle Passagiere tot sind. Sollte sich einer ihrer Angehörigen in diesem Zug befunden haben, melden Sie sich bitte unter folgender Nummer ..."
Susanne hatte das Gefühl, sich außerhalb ihres eigenen Körpers zu befinden. Sie sah sich selbst dabei zu, wie sie ihren Kopf unter das Kissen ihres Bettes presste und haltlos begann zu schluchzen. Ihre Nadine konnte nicht tot sein, das ging doch nicht, sie war doch erst 18 Jahre alt gewesen, so wie sie. Sie beide wollten doch ihr gesamtes Leben miteinander verbringen, beste Freundinnen bis in alle Ewigkeit, dies hatten sie sich in der Grundschule geschworen. Susanne hatte noch niemals ein Weihnachtsfest ohne Nadine verbracht. Sie feierten es abwechselnd bei ihrer und Nadines Familie. Jedes Jahr schmückten sie den Weihnachtsbaum gemeinsam. Susanne hielt den Stuhl fest, wenn Nadine auf diesen stieg, um die Christbaumspitze, die sie gemeinsam ausgesucht hatten und welche jedes Jahr den Haushalt wechselte, je nach dem , bei wem sie den Heiligen Abenden verbrachten, am Tannenbaum anzubringen. Bei dem Gedanken daran, dass das 14. gemeinsame Weihnachtsfest keine Zukunft mehr für sie beide in sich barg, lief es ihr buchstäblich eiskalt den Rücken hinab.
22.12.1964, Koblenzer - Hauptbahnhof, 8.30, Bahnsteig 4
"O du Nacht des Herrn, mit deinem Liebesstern, aus deinem reinen Schoß ringt sich ein Wunder los." Susanne saß nun schon seit einer Stunde in eisiger Kälte auf Bahnsteig 4 des Koblenzer Hauptbahnhofes und wartete auf ihr Wunder. Sie hatte die letzten Zeilen des bekannten Weihnachtsgedichtes "Weihnachtswunder" von Gustav Falke, zu ihrem persönlichen Gebet erkoren. Die junge Frau blickte nun mit Tränen in den Augen in Richtung des einfahrenden Zuges. Wenn Nadine noch leben sollte, dann müsste sie sich in diesem Zug befinden. Susanne malte sich aus, wie es sein würde, wenn sie ihre Busenfreundin tatsächlich mit nach Hause brächte. Als sich die Türen des Schnellzuges öffneten, schloss sie die Augen und wiederholte den letzen Satz ihres Lieblingsgedichtes immer und immer wieder. Weihnachten galt doch schließlich als die Zeit der Wunder, warum also nicht ein solches heraufbeschwören, dachte sich Susanne an diesem Morgen und war ohne jemandem etwas von ihrem Vorhaben mitzuteilen, hierher gefahren. Die menschliche Seele ist nur bis zu einem gewissen Punkt belastbar, wird dieser überschritten, so geschieht manchmal etwas, was man als Regression bezeichnet, man fällt auf eine Entwicklungsstufe zurück, die man glaubte bereits überwunden zu haben. Susanne hielt seit der Beerdigung ihrer Freundin an dem kindlichen Glauben fest, dass Nadine, wenn sie es sich nur von ganzem Herzen wünschte, zu ihr zurückkehren würde. Sie ging davon aus, dass wenn sie die letzte Zeile des "Weihnachtswunders", welches die beiden Freundinnen bereits im Kindergarten kennen und lieben gelernt hatten, nur deutlich und häufig genug ausspräche, dieses Weihnachtswunder schließlich auch für sie wahr werden könnte. Alle hatten ihr mehrmals versichert, Nadine sei definitiv tot, ihre Handtasche, ihre Reisetasche, alles habe man neben einer schlimm zugerichteten, nicht mehr identifizierbaren Person entdeckt, dennoch gingen der Gerichtsmediziner, die Sanitäter und auch das Bergungsteam des Zugunglücks davon aus, dass es sich bei dieser Leiche um die 18 jährige Nadine Schneider handeln musste. Susanne öffnete die Augen, versuchte sich vorzustellen, wie ihre Freundin winkend hinter der doppelt gesicherten Scheibe des Zuges stehen und darauf warten würde, dass dieser endlich zum Stillstand kommt, damit sie aussteigen und ihre Freundin nach langer Zeit wieder in die Arme schließen dürfte , aber als Susanne dort niemanden, der ihrer Nadine ähnlich sah
erblicken konnte, wusste sie, dass sie wirklich über 6 Monate im Unrecht gewesen war. Nadine musste wahrhaftig gestorben sein, ansonsten hätte sie alles Menschenmögliche unternommen, um heute, 2 Tage vor Weihnachten hierher zurückzukehren.
Dennoch wiederholte Susanne im Geiste immer und immer wieder die letzten Zeilen ihres gemeinsamen Lieblingsgedichtes, sie dachte an diese am Tag ihrer eigenen Hochzeit, 2 Jahre später, dem 22. Dezember 1966. Sie dachte an diese Zeilen als 3 Jahre später das erste ihrer insgesamt 4 Kinder zur Welt kam und natürlich dachte Susanne zu jedem Weihnachtsfest an ihr ganz persönliches "Weihnachtswunder". Wie selbstverständlich verwendete sie auch noch 20 Jahre später die gleiche Christbaumspitze, ein goldener Stern mit einem versilberten Engel, der darüber zu schweben schien. Sie sang die gleichen Weihnachtslieder und fuhr jedes Jahr am 22. Dezember zum Koblenzer Hauptbahnhof, um den ankommenden Schnellzug aus Köln, welcher dort um 8.30 Uhr eintraf, zu beobachten.
8. 07.1964, Andernach
Als der ganz in schwarz gekleidete Mann, mittleren Alters, ihr Zugabteil betrat, wusste Nadine zunächst nicht, wie sie reagierte sollte. Er setzte sich direkt neben sie, sodass die junge Frau seinen schlechten Atem auf ihrer Wange spüren konnte. Ehe sich der Zug erneut in Bewegung setzen konnte, packte sie der Fremde und befahl ihr still zu sein: "Wenn Du auch nur einen winzigen Mucks von Dir gibst, dann bring ich Dich noch hier um", flüsterte er mit heiserer Stimme und zückte ein Messer. "Du gehörst jetzt zu mir, ich habe Dich schon vor Jahren gefunden und jetzt können wir endlich heiraten"!!! "Was wollen sie von mir"?, schrie Nadine, drehte sich ruckartig um und versuchte die Schiebetüre des Zuges zur Seite zu bewegen, doch er war schneller, packte sie erneut und schleuderte sie durch das Abteil, so dass sie leblos auf dem schmutzigen Linoleum liegen blieb.
15.08.1964, Bad- Breisig
" Wann lassen Sie mich endlich gehen"? , mit flehendem Blick starrte Nadine auf die massive Holztüre, welche den Keller vom Wohnbereich des Hauses trennte. Sie wusste, dass er dort war, in der Küche stand und jedes Wort, was sich durch ihre Lippen rang, hören konnte. "Ich bin die falsche, glauben Sie mir doch, ich habe das Grab Ihrer Freundin gesehen, sie ist tot, tot, verstehen Sie das nicht, ich bin nicht Sarah, ich heiße Nadine, Nadine Schneider und ich sollte eigentlich schon seit Wochen……! Sie konnte hören, wie er leise zu schluchzen begann. "Sarah, Du hattest einen Unfall, der Zug, er ist entgleist, Du warst mehrere Wochen bewusstlos, Du musst Dich doch an mich erinnern, Sarah, bitte!"
22.12.1965, 8.30 Uhr, Bad- Breisig
Nadine hatte sich mit der Zeit damit abgefunden, dass aus dieser Situation keinen Ausweg für sie gab, seit über einem Jahr hielt man sie für tot und er war ein hoch angesehener Chirurg, sehr beliebt, er kannte viele Tricks, wer sollte ihr schon glauben? Und vor allem, wie sollte sie aus dieser Hütte herauskommen? , es schien ein aussichtloses Unterfangen zu sein, dennoch träumte Nadine jede Nacht von einem hell erleuchteten Weihnachtsbaum und einem Leben in Freiheit. Immer wieder starrte die junge Frau den zerfledderten Zettel aus ihrer Jeansjacke an und Tränen liefen ihr über die Wangen und benetzen diesen, so dass die Buchstaben vor Nadines Augen verschwammen und vollends zu verwischen drohten. "O du Nacht des Herrn, mit deinem Liebesstern, aus deinem reinen Schoß ringt sich ein Wunder los". Die letzte Zeile ihres Lieblingsweihnachtsgedichtes kam ihr beim Anblick des Zettels, den ihr Susanne vor über einem Jahr zusteckte, wieder in den Sinn .Zur gleichen Zeit saß ein einsames 19 jähriges Mädchen auf Gleis 4 des Koblenzer Hauptbahnhofes und betete die gleichen Zeilen vor sich hin, wohlweislich, dass Gott nicht in der Lage dazu sein würde ihre Nadine von den Toten auferstehen zu lassen. Als der Chirurg das abgedunkelte Zimmer betrat, stopfte Nadine das Stück Papier hastig in ihre Jeansjacke zurück, sie glaubte zwar nicht mehr wirklich daran jemals entkommen zu können, doch die Hoffnung war noch nicht ganz verloschen. Jedes mal, wenn sie morgens die Augen öffnete, hoffte sie inbrünstig er möge endlich zur Vernunft gekommen sein und einsehen, dass Sarah vor über einem Jahr Selbstmord beging und sie, Nadine Schneider, nicht die war, für die er sie hielt. "Wie geht es Dir mein Liebling?, ich hoffe doch gut"! "Sicher Sch…. Schatz", antwortete sie stotternd, da Nadine inzwischen dazu übergegangen war, sein Spielchen mit zu spielen. "Ich dachte, ich könnte doch ein wenig spazieren gehen, während Du…..." "Sarah", flüsterte der Arzt zornig, "was habe ich Dir zu diesem Thema gesagt "?!
"Das Du nicht willst, dass mir noch einmal so etwas Schlimmes widerfährt und ich deshalb das Haus nicht verlassen soll, während Du fort bist ". "Ganz genau, braves Mädchen, ich muss jetzt zur Arbeit, kümmere Dich um unsere kleine Prinzessin", ermahnte er Nadine und zwinkerte sanft lächelnd zu einer Wiege hinüber, die im hinteren Teil des Zimmers stand. "Das werde ich, aber wenn du heute Abend zurückkommst, dann bin ich nicht mehr hier und die Kleine genauso wenig, ich finde einen Weg aus Deiner Bruchbude, darauf kannst Du Gift nehmen". Innerlich zitterte die junge Frau, ihre Augen jedoch versprühten eine solche Entschlusskraft, dass es dem Chirurgen kurze Zeit die Sprache verschlug. Diesen Moment nutzte Nadine, um mit dem Baby in ihren Armen aus dem Zimmer und der dahinter liegenden Tür in den Keller zu fliehen. Die Tür zum Wohnbereich stand offen, weinend und schlotternd vor Angst hastete sie die morschen Stufen zur Küche hinauf und stürzte zur Haustüre, in ihren Gedanken sah sich bereits mit ihren Eltern und Susanne vereint. In zwei Tagen war schließlich Weihnachten: "Aus Deinem reinen Schoß ringt sich ein Wunder los".
27.12.1998, Koblenz, Praxis von Dr. Luise Neubauer
Die Psychiaterin blickte ihrer langjährigen Patientin intensiv in die vom Weinen rot geschwollenen Augen. "Sie müssen endlich die Tatsache akzeptieren, Frau Behler, dass Nadine Schneider bei einem Zugunglück, welches über 30 Jahre zurückliegt, ihren viel zu frühen Tod fand und das auch kein Wunder eintreten wird, wodurch Ihre Freundin von den Toten aufersteht. Verstehen Sie , was ich meine, lassen Sie Ihre Nadine endlich in Frieden ruhen, besuchen Sie nicht mehr jedes Jahr immer und immer wieder den gleichen Bahnsteig in der Hoffnung, sie würde auch dort sein, denn das wird sie nicht. Nadine ist tot, Frau Behler, Sie haben sie vor über 30 Jahren beerdigt, wissen Sie das noch?" "Ich kenne die Tatsachen, aber das tut hierbei nichts zur Sache, ich bin nicht hier, um mir diesen Schnee von gestern anzuhören,
wissen Sie, meine Jüngste ist gestern 18 Jahre alt geworden, sie ist jetzt im selben Alter wie wir damals!! Nein, ich bin hier, weil ich nicht glaube, dass die Frau, die wir damals beerdigt haben, wirklich Nadine Schneider war. Als ich am Heiligen Abend den Weihnachtsbaum schmückte, ich beginne immer mit dem Aufsetzen der Christbaumspitze, da habe ich sie gespürt. Es war immer Nadines Aufgabe die Spitze anzubringen." Dr. Neubauer wusste nicht, wie sie darauf reagieren sollte, glaubte ihre Patientin wirklich, dass sie jahrelang am Grab einer Fremden unzählige Tränen vergossen hatte und dachte sie womöglich, dass Frau Schneider noch lebte? "Ich weiß nicht, ob ich Sie richtig verstanden habe?, glauben Sie etwa, dass Nadine noch am Leben ist, wenn das wirklich so wäre, wieso meldet sie sich dann nicht bei Ihnen?, warum sollte sie Ihnen, ihrer besten Freundin, so etwas antun und über mehrere Jahrzehnte fortbleiben, oder glauben Sie es war ihr Geist, den Sie spüren konnten"? "Nein", antwortete Susanne zögerlich und hielt dem festen Blick der Psychiaterin stand, "nein, es war wie so eine Art Ahnung, die mich überkam, sie liegt nicht in diesem Grab, ich konnte sie fühlen und hören, so als ob sie mit mir im gleichen Raum wäre, nicht etwa als Geist, sondern als versuche sie irgendwie mit mir in Kontakt zu treten. Manchmal verlieren Menschen doch ihr Gedächtnis oder sie liegen im Koma und die Seele der Betreffenden begibt sich auf eine Reise. Vielleicht kommt sie nicht zu mir, weil sie nicht mehr weiß, wer sie ist, oder sie liegt wie gesagt, seit Jahren im Koma und ihre Seele versucht nun mich zu finden. Ich habe die ganze Zeit auf mein persönliches Weihnachtswunder gewartet, wie in diesem Gedicht von Gustav Falke." Dr. Neubauer blickte von ihrem Klemmbrett auf, als Susanne plötzlich verstummte: "Theoretisch wäre man ja heute dazu in der Lage herauszufinden, ob jemand wirklich die Person ist, die…..." "Sie meinen, einen DNA - Test?". In ihren Gedanken sah sie sich bereits mit Nadine vereint, doch die Psychiaterin holte sie in die Gegenwart zurück: "Es existiert jedoch keine Befugnis"! "Wie meinen Sie das"? "Ich meine damit, dass wir nicht einfach so eine Exhumierung beantragen können, die Polizei, sowie die Gerichtsmedizin wird Ihnen diese übersinnliche Geschichte nicht abkaufen. Ihre Aussage wird denen nicht genügen, so Leid mir das auch tut. Wenn Sie jedoch meine ehrliche Meinung dazu hören möchten, dann kann ich Ihnen nur sagen, dass sie diese Tragödie endlich ruhen lassen müssen. Glauben Sie mir, es wurde die richtige Person beerdigt"!
November 2006, Bad- Breisig
Manchmal geschehen Dinge, die wir uns nicht erklären können, einige versetzen uns einen solchen Schock, dass wir kurzzeitig die Kontrolle verlieren und vielleicht auch das Gefühl haben wahnsinnig zu werden. Doch irgendwann begreift die angeschlagene Seele, dass oftmals nichts ist, wie es scheint und es aus diesem Grund manchmal nur von Vorteil sein kann, wenn die betreffende Person, die uns enttäuschte, nicht mehr am Leben ist. So dachte die Frau mittleren Alters, als sie vor den Trümmern ihrer Kindheit stand zunächst nicht. Sie wollte, dass er noch lebte, damit sie ihn leiden, büßen für das, was er ihr jahrelang angetan hatte, lassen konnte. Sie wollte Rache, die süßeste Rache, die es nur geben konnte, sie hätte ihn gerne selbst ermordet, was er nun bereits im Alleingang erledigte. Ihre Hände begannen zu zittern, als sie ein altes, verstaubtes Tagebuch aus dem Karton nahm.
"Meine geliebte Tochter, wenn Du das hier eines Tages liest, dann weißt Du, dass es zumindest einen Menschen auf dieser Welt gegeben hat, der Dich von Herzen liebte. Ich bin nur eine Gefangene in einem Haus, das mir fremd ist, ohne Möglichkeit zu entkommen. Er mag einmal ein netter Mensch gewesen sein, aber der Selbstmord seiner Freundin scheint ihn in den Wahnsinn getrieben zu haben, er glaubt ich sei sie. Er wird mich nicht gehen lassen, vielleicht fliehe ich irgendwann, da ich jedoch keine Ahnung habe, ob mir das gelingen wird, muss ich Dich, Susi, um etwas bitten. Fahr am 22. Dezember zum Koblenzer Hauptbahnhof und erkundige Dich, wann und wo ein Schnellzug aus Köln erwartet wird, der früher immer gegen 8.30 Uhr dort eintraf. Ich weiß nicht, ob sie dort auf mich wartet, aber einen Versuch ist es wert, erlöse meine Freundin, sag ihr, dass ich nicht bei diesem Zugunglück gestorben bin und da zu diesem Zeitpunkt der Heilige Abend nicht mehr lange auf sich warten lässt, erinnere sie an unser Lieblingsgedicht und sage ihr, dass sich auch für sie ein Weihnachtswunder erfüllen wird. Denn ich kehre zu Susanne, zwei Tage vor Weihnachten zurück, fast wie versprochen, nur eben erst durch Dich und ein paar Jahre später!!!!, in Liebe, Deine Mama, Nadine Schneider
Was verloren war,
du meintest, immerdar,
das kehrt nun all zurück,
ein selig Kinderglück.
O du Nacht des Herrn
mit deinem Liebesstern,
aus deinem reinen Schoß
ringt sich ein Wunder los.
Mit Tränen in den Augen blickte Susi auf die Vergangenheit der Frau zurück, die sie vor über 40 Jahren zur Welt gebracht hatte, als sie plötzlich spürte, wie jemand den Raum betrat. Susi drehte sich zu ihrer Mutter um und starrte sie fassungslos an: "Mama, wie heißt Du"? "Susi, Du weißt doch, dass mein Name Sarah lautet". "Ich glaube Du irrst Dich", schniefte Susi und reichte das verstaubte Tagebuch an ihre Mutter weiter, "hier, lies das Mal"!
Sarah nahm das Buch entgegen und schlug es auf. Die plötzliche Erinnerung an das was vor über 40 Jahren geschah, überkam sie wie ein nicht zu bändigender Orkan und führte sie gedanklich in das Jahr 1964 zurück, wo sie Opfer eines trauernden Chirurgens wurde, der gerade seine Freundin durch Selbstmord, verloren hatte. Sie erinnerte sich daran, dass sich diese Freundin, Sarah, vor einen einfahrenden Zug geworfen hatte. Er glaubte damals sie selbst sei Sarah und verschleppte sie aus diesem Grund in dieses abgelegene Haus in Bad- Breisig. Sie wurde schwanger von ihm und brachte am 14.Oktober 1965 ein kleines Mädchen zur Welt. Irgendwann glaubte sie fliehen zu können und entkam ihm fast, dabei musste es passiert sein, dieser schlimme Sturz, die Narbe an der rechten Schläfe, wie oft hatte sie diese abgetastet, ohne zu wissen, woher sie stammte. All diese Erinnerungen waren mit einem Mal wieder da und urplötzlich drängte sich ihr der Wunsch auf, dass sie ihn nur zu gerne selbst getötet hätte, aber das konnte sie nun nicht mehr, denn er, anders hatte sie ihn niemals benannt, beging vor 14 Tagen Selbstmord, indem er eine halbe Schachtel eines stark wirkenden Schlafmittels mit mehreren Flaschen des besten Wodkas hinunterspülte. Nadine ließ das Buch unvermittelt fallen und fiel ihrer 41 jährigen Tochter um den Hals: "Ich bin nicht Sarah, ich bin es nie gewesen, ich heiße Nadine und Du hast, hattest wahrscheinlich ganz tolle Großeltern und meine Susanne, ich habe Dich wohl nach ihr benannt, wir sollten sie erlösen. Jetzt erinnere ich mich auch wieder an das Zugunglück, es geschah nur 10 Minuten später und irgendjemand liegt seit Jahrzehnten im Grab einer Frau, die immer noch am Leben ist."
22.12.2006, Koblenzer Hauptbahnhof, 8.30 Uhr, Bahnsteig 8
Es existieren Zufälle, die es eigentlich gar nicht geben dürfte. Da begibt sich eine 60 jährige Frau zum 42. Mal zu einem Bahnsteig, um auf die Ankunft ihrer besten Freundin aus Oxford zu warten. Alle hatten ihr mehrmals versichert diese wäre tot und es sei sinnlos sich immer weiter zu quälen, jahrelang einen Geist zu verfolgen. Dieses Jahr war Susanne nun endlich gekommen um den jährlichen Besuchen ein Ende zu bereiten und den verfolgten Geist ihrer Freundin in Frieden ruhen zu lassen. Das Zugunglück und die tägliche Ungewissheit, ob Nadine wirklich durch diesen Unfall ihren viel zu frühen Tod fand, hatten Susanne zwar all die Jahre begleitet, sie jedoch niemals daran gehindert ein glückliches Leben zu führen. Denn Nadine mochte sie zwar vor Jahrzehnten verlassen haben, doch ein wichtiger Teil ihres Herzens war immer noch mit der quirligen Blondine aus der Wohnung eine Etage unter ihr, verbunden. So trug sie die Erinnerung an diese zu jeder Tages und Nachtszeit mit sich umher, die Hochzeit mit ihrem Traummann, Nadine war dabei, die Geburten ihrer 4 Kinder, Nadine war anwesend, der Anblick eines Sternenhimmels, Nadine schaute zu, das Schmücken des Weihnachtsbaumes, Nadine brachte in ihren Gedanken weiterhin jedes Jahr die Christbaumspitze an. Susanne war gerade im Begriff eine winzige rote Rose auf die Schienen der Gleise zu werfen, als sich ihr eine Hand von hinten auf die Schulter legte: "Susanne, so lange solltest Du hier eigentlich nicht auf mich warten, aber ich hoffe, Du bist mir nicht allzu böse, dass ich erst jetzt zu Dir zurückkehre." Susanne drehte sich rasch um und blickte den beiden Frauen, die nun vor ihr standen ungläubig ins Gesicht. Nadine war nicht tot, sie lebte, sie stand wahrhaftig vor ihr, es war keine Halluzination, womit sich ihr ganz persönliches Weihnachtswunder nun endlich, wenn auch mit mehr als 40 Jahren Verspätung, erfüllte. "Was lange währt, wird endlich gut", dachten wohl beide, als sie sich zum ersten Mal seit vielen, vielen Jahren wieder in die Arme schließen konnten. Die Freundinnen klammerten sich aneinander als wollten sie sich nie wieder los lassen und Nadine meinte nebenbei: "Das Stipendium wird wohl nicht mehr aktuell sein, oder was meinst Du?"
Manchmal lohnt es sich ganz einfach auch dann noch an das Unfassbare zu glauben, wenn andere Dir einreden, dass Du damit lediglich Deine kostbare Zeit vergeudest. Wer weiß, vielleicht hätte Nadine all die Jahre gar nicht überlebt, wenn nicht ganz in ihrer Nähe jemand unablässig und voller Vertrauen an die Erfüllung eines Herzenswunsches, an die Rückkehr ihrer Freundin geglaubt hätte!! In diesem Sinne "Frohe Weihnachten", und vergessen Sie eines nicht, egal, was andere Ihnen auch einreden mögen, Hoffnung ist niemals Vergeudung, selbst wenn sie eines Tages sterben sollte!!!
"Aus Deinem reinen Schoß, ringt sich ein Wunder los"