Weihnachten ist für mich noch immer das Fest der Vorfreude, genauso wie vor mehr als vierzig Jahren.
Ich wohnte damals mit meinen Eltern, meiner Schwester und meinen Großeltern in einem kleinen Häuschen auf dem Lande, das sich meine Eltern buchstäblich vom Munde abgespart hatten. Das hieß auch immer, dass es zwar gutes Essen und einen schönen Christbaum, aber eher praktische Geschenke - wie Pullover, Füllfeder oder Unterwäsche - gab. Ein Buch war zwar ein gewünschtes aber selten erhaltenes Geschenk. Da aber meine Schulkameraden oft weniger Geschenke bekamen, war dies für mich normal und tat meiner Freude keinen Abbruch. Denn nie konnte ich in all den Jahren, in denen ich ans Christkind als Geschenkebringer glaubte, die Stunde der Bescherung - sieben Uhr abends - erwarten.
Das kam so.
Mein Vater arbeitete als Gemeindesekretär und kannte - wie ich es sah - Gott und die Welt. Alle, die etwas wollten, kamen das ganze Jahr hindurch zu uns nach Hause, denn das ersparte langes Warten im Gemeindeamt. Und immer wurde ihnen geholfen. Zu Weihnachten bedankten sich dann manche, indem sie uns Geschenke brachten: ein frisches Stück Fleisch von der letzten Hausschlachtung, ein Fasan kam pünktlich vor Weihnachten vom Jäger, Äpfel und Honig vom Bürgermeister selbst, Nusspotitze oder Würste, lebende und tote Hühner und vor allem selbst gebrannter Schnaps und frisch gebackenes Bauernbrot. Mein Lieblingsgeschenk war aber immer ein Geschenkkork mit so exotischen Dingen wie Dorschleber, Maiskölbchen und Armagnac-Zwetschken. Manchmal gab es auch teure Marzipanpralinen, die allein mir gehörten, weil sonst niemand Marzipan aß. In Erwartung all dieser Köstlichkeiten verging die letzte Adventwoche wie im Flug.
Nur ein Geschenküberbringer ist mir in schlechter Erinnerung - er brachte immer den Braten für den Christtag, eine bläulich-rote Gans, die sich erst am Christtag in einen knusprig-braunen Braten verwandelte.
Trotz dieser kulinarischen Aussichten bangten wir jedes Jahr schon ab Mittag des 24. Dezember, wann die Gans, der dazugehörige Wirt und seine beiden Kleinkinder kommen würden. Davon hing es nämlich ab, ob sieben Uhr abends für die Bescherung ein realistischer Termin war. Für mich war es zwar unerklärlich, wie das Christkind sich nach den Plänen unseres Gänselieferanten richten konnte, aber es leuchtete mir ein, dass die Bescherung erst nach getaner Arbeit möglich war.
Es war Weihnachten 1966, vier Uhr nachmittags und noch keine Gans in Sicht.
Wohl zwanzigmal hatte ich schon aus dem Fenster gesehen, doch nichts! Es wurde schon dämmrig, es hatte begonnen zu schneien und die Tür zum Zimmer mit dem Christbaum war schon lange versperrt. Doch nichts geschah … Als es fünf Uhr wurde und meine Mutter mit den Vorbereitungen fürs Abendessen - wie immer Fisch - begann, konnte ich nicht mehr ruhig sitzen. Wie sollte das Christkind kommen, wenn Besucher bei uns waren?
Meine Mutter beruhigte mich und sagte: "Du wirst sehen, heuer bleibt er nicht so lang!" Üblicherweise blieb er ewig! (Heute weiß ich, dass er genau so lange bei uns war wie seine Frau zum Schmücken des Christbaumes brauchte).
Er kam um halb sechs und blieb bis halb acht. Es waren die längsten Stunden meiner Kindheit.
Doch als das Glöckchen zur Bescherung rief, der mit Engelhaar, Glaskugeln und vielen Zuckerringen geschmückte Baum leuchtete, das Zimmer nach Honigkerzen duftete und das Lied "Stille Nacht" gesungen und schließlich die Päckchen ausgepackt wurden, wusste ich: das Christkind hatte Mitleid mit mir gehabt: drei Susanne-Barden Bücher (das absolute Muss für junge Mädchen) und ein neuer Schlitten stachen eindeutig alle anderen Geschenke aus.
Es war das letzte Weihnachtsfest, an dem ich ans Geschenke bringende Christkind glaubte, aber sicher das schönste.
Wenn unsere Familie heute Weihnachten feiert, dann sobald es dunkel wird. Ich kann einfach nicht länger warten!