Nach zwei Tagen musste sich Karl eingestehen, dass er sich verirrt hatte und das tat er weiß Gott nicht gerne. Er war der beste und schnellste Bote im ganzen deutschen Reich, seine Kenntnisse des Wegenetzes waren legendär und sein Orientierungssinn galt als untrüglich, aber all das half ihm im Moment so gar nicht weiter. Das Land war seit Wochen in eine dicke Schneedecke gehüllt. Wenn bekannt würde, dass er mit den Befehlen für die königlichen Truppen vom Weg abgekommen war ... Die Folgen für seinen Ruf wollte er sich lieber nicht ausmalen. Innerlich verfluchte er die elenden Franzosen, wegen deren unglaublicher Sturheit er in der Weihnachtszeit von Potsdam nach Paris musste. Wenn er sich nicht irrte, war heute Heiligabend. Seine Familie saß jetzt wahrscheinlich um den Kamin herum und verteilte Geschenke oder sie sangen in der Kirche Weihnachtslieder. Wie gerne wäre er jetzt bei ihnen! Er griff nach dem Holzkreuz, das ihm seine kleine Tochter vor der Abreise gegeben hatte. Trotz der Kälte und des Hungers huschte ein Lächeln über sein Gesicht, als er sich ihre letzte Begegnung in Erinnerung rief. Wie sie da gestanden hatte; barfuß und mit einem langen, weißen Nachthemd - wie ein kleiner Engel. " Hier. Das bringt dir Glück", hatte sie gesagt, ihm einen Kuss gegeben und war mit feuchten Augen zurück ins Haus gelaufen. Andererseits, fand Karl, hätte er es auch schlimmer treffen können. Er fror zwar erbärmlich und hatte Hunger, doch wurde wenigstens nicht pausenlos auf ihn geschossen. Der Gedanke an die Männer an der Front verlieh ihm neue Kraft und er kämpfte sich entschlossen weiter durch den hüfthohen Schnee. Dabei dachte er etwas wehmütig an sein treues Pferd, welchem er am Morgen die Kehle durchgeschnitten hatte, da es vor Erschöpfung zusammengebrochen war. Sein Magen begann zu knurren, aber er hatte seit Stunden weder Bäume, noch Sträucher gesehen; ganz zu schweigen von Höhlen (oder einem Wirtshaus), in deren Schutz er sich ausruhen konnte. Gezwungenermaßen begann er, mit blanken Händen ein Loch in den Schnee zu buddeln, in dem er seinen Mantel ausbreitete und sich darauf nieder ließ. Seufzend holte er die letzte Portion Dörrfleisch aus seinem durchweichten Beutel (vielleicht hätte er sein Pferd doch noch mitnehmen sollen oder wenigstens einige Teile von ihm) und nahm ein einsames Mahl zu sich. Sein Selbstmitleid ertränkte er in dem letzten Schluck Wein. Nach dem Essen fühlte sich Karl satt und aufgewärmt (sofern man das in seinem Zustand überhaupt noch sagen konnte) und unendlich müde. Daher beschloss er, sich einige Minuten auszuruhen, auch wenn er vorsichtig sein musste, da er nicht einschlafen durfte. Dafür hatte er keine Zeit. Erschöpft bettete er seinen Kopf auf seinen Knien, schloss die Augen ... und schlief nach wenigen Sekunden tief und fest ein.
Ein unerträglich helles Licht weckte Karl am nächsten Morgen: Die Sonne, die hell und warm vom Himmel schien, nur nicht warm genug um die scheinbar unendlichen Schneemassen zu schmelzen. "Sind Sie endlich wach?", fragte eine spöttische Stimme. Nachdem seine Umwelt wieder klare Konturen angenommen hatte, schaute Karl direkt in die himmelblauen Augen einer jungen Frau. "Sie sollten aufstehen Karl, denn wir müssen jetzt gehen."
"Was??", fragte der alte Mann verständnislos. " Wohin gehen? Woher kennen Sie meinen Namen und wer sind Sie eigentlich?"
Karl wollte noch weitere Fragen stellen, aber die blieben ihm im Halse stecken. Seltsam! Er hätte jeden Eid geschworen, dass er sich auf einer verschneiten Weide niedergelassen hatte, aber er lag mitten auf einem Waldweg. Und auf was für einem!!! Das Schneegewand der Bäume glitzerte in der Sonne, wie tausend Edelsteine. Der Weg selbst war in einen dünnen Nebelschleier gehüllt, sodass man sein Ende nicht erkennen konnte, nur die gleißende Helligkeit dort.
Die junge Frau deutete darauf: "Dorthin müssen wir. Da ist schon ein schönes und vor allem warmes Plätzchen für dich reserviert."
Karl fand ihre Wortwahl seltsam, aber nach einigen Augenblicken ging ihm auf, wer die Fremde war. Einen Moment lang sah er sie traurig an, denn er hatte gehofft, sie noch nicht so bald zu treffen, aber dann nahm er die ihm angebotene Hand. Was hatte er schon für eine Wahl?
"Hab keine Angst!", meinte die junge Frau mit einem ermunternden Lächeln, dann ging sie voraus und Karl folgte. Doch dann hielt er inne. "Darf ich meine Familie noch einmal sehen?", fragte er kleinlaut.
Die Fremde lächelte ihn warm an. "Heute ist doch Weihnachten. Natürlich kannst du sie noch einmal sehen."
Fast hundert Kilometer entfernt zuckte ein kleines Mädchen in der Kirche zusammen. Suchend sah sie sich um. Seltsam; sie hätte schwören können, dass sie ihren Vater gehört hatte. Sie versuchte, sich wieder auf das Gebet zu konzentrieren, aber das Gefühl wurde immer intensiver. Er schien direkt neben ihr zu stehen, doch sie konnte ihn einfach nicht sehen. Doch dann verstand sie. Das kleine Mädchen bedachte die mannshohe Jesusfigur neben dem Altar mit einem Lächeln. Irgendwie war es ihm doch gelungen, ihr ihren einzigen Weihnachtswunsch zu erfüllen. Dass ihr Vater heute bei ihr war; das war alles, was sie sich gewünscht hatte. " Frohe Weihnachten, Vater", sagte sie und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Gebet.
Erst der Frühling zwang den Schnee, des Königs Boten Karl wieder freizugeben. Ein junger Schäfer fand seine angetaute Leiche auf einer riesigen Viehweide. Er hatte seinen Kopf auf den Knien gebettet, seinen Beutel im Arm ... und ein friedvolles Lächeln auf dem Gesicht. Es schien, als würde seine Hand noch immer etwas halten.