Wenige Minuten später stand Tom im seichten Wasser. Er watete dem gegenüberliegenden Ufer entgegen. Die Hälfte des Weges hatte er schon zurückgelegt. Das Wasser reichte ihm bis zur Brust und die Strömung wurde so stark, dass er schwimmen musste. Obwohl er versuchte, schräg gegen die Strömung anzuschwimmen, wurde er rasch abgetrieben. Doch schließlich erreichte er das Ufer.
Triefend vor Nässe ging er stromaufwärts bis zur Anlegestelle des Fährbootes. Geräuschlos glitt er die Böschung hinunter ins Wasser. Er schwamm drei oder vier Stöße bis zu dem kleinen Rettungsboot, legte sich unter die Ruderbank und wartete bis die Fähre ablegte. Tom atmete auf. Er freute sich, denn er wusste genau, dass dies die letzte Überfahrt in der Nacht war.
Als die Räder nach zwölf oder fünfzehn Minuten endlich still standen, schwamm Tom ans dunkle Ufer. Durch menschenleere Gassen lief er bis zum Haus seiner Tante. Er kletterte über den Zaun und schaute ins erleuchtete Wohnzimmerfenster. Dort saßen Tante Polly, Sid, Mary und Joe Harpers Mutter und sprachen miteinander.
Behutsam öffnete er den Riegel der Tür und drückte auf die Klinke. Leise schlüpfte er auf den Knien durch.
"Warum flackert die Kerze so?", wunderte sich Tante Polly. Tom beeilte sich. "Nanu, die Tür ist ja offen. Bitte mach sie rasch zu, Sid!"
Gerade noch rechtzeitig verschwand Tom unter dem Bett. Dort blieb er bewegungslos liegen, den Kopf knapp vor Tante Pollys Fuß.
"Wie ich schon sagte", ertönte ihre Stimme, "richtig schlecht war er nie, nur übermütig. Er wollte nie etwas Böses tun und er war der gutherzigste Junge der Welt…" Sie begann zu weinen.
Mrs. Harper fiel in ihre Lobeshymnen ein. "Genau wie mein Joe!" Nachdem sie sich ausschweifend über ihren Sohn ausgelassen hatte, begann auch sie zu schluchzen.
"Ich hoffe, Tom hat es jetzt besser. Wenn er nur ein bisschen braver gewesen wäre!", warf Sid ein. Umgehend wies ihn Tante Polly zurecht. "Sag ja nichts gegen meinen Tom, jetzt, wo er von uns gegangen ist! Gott wird sich seiner annehmen."
Mrs. Harper und Tante Polly tauschten noch einige Erinnerungen an ihre Jungen aus. Immer wieder fiel ihnen ein, dass die beiden sie bis zur Weißglut geärgert hatten. Und trotzdem machten sie sich Vorwürfe und all die Streiche kamen ihnen auf einmal gar nicht mehr so schlimm vor.
All die Erinnerungen waren zu schlimm für die alte Dame. Sie brach völlig zusammen. Tom konnte kaum seine Tränen zurückhalten, so Leid tat er sich selber. Er hörte, wie Mary etwas Liebes über ihn sagte. Langsam begann er, eine bessere Meinung von sich zu haben. Natürlich belastete ihn der Kummer der Tante sehr. Am liebsten wäre er sofort unter dem Bett hervorgekrochen und hätte sich in ihre Arme geworfen. Die theatralische Vorstellung war reizvoll. Trotzdem zwang er sich, still liegen zu bleiben.
Aus den Bruchstücken der Unterhaltung hörte Tom heraus, dass das ganze Dorf dachte, er und seine Freunde wären ertrunken. Sie hatten das abgetriebene Floß gefunden. Sollten die Toten bis Sonntag nicht gefunden sein, dann wäre jede weitere Hoffnung sinnlos und sie würden eine Totenfeier abhalten. Tom schauderte.
Mrs. Harper erhob sich schluchzend und verabschiedete sich. Auch Sid und Mary sagten gute Nacht zu Tante Polly, mit größerer Zärtlichkeit als sonst. Sie weinten sogar ein wenig. Tante Polly kniete sich neben das Bett und betete hingebungsvoll. Tom lag in Tränen aufgelöst unter dem Bett.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, denn es dauerte eine Weile, bis seine Tante eingeschlafen war. Jetzt konnte er endlich hervorkriechen. Er betrachtete die schlafende alte Dame. Sein Herz war schwer und voller Mitleid für sie. Er überlegte, ob er seiner Tante die auf dem Rindenstück geschriebene Nachricht neben das Bett legen sollte. Doch er hatte eine bessere Idee. Dann beugte er sich nieder und küsste sie zärtlich bevor er hinausschlich und die Tür hinter sich verriegelte.
Die Sonne stand bereits am Himmel, als Tom triefnass im Lager erschien. Gerade hörte er, wie Joe sagte: "Nein, Huck. Tom kommt bestimmt zurück. Er ist in Ordnung. Außerdem wäre es unehrenhaft für einen echten Piraten. Irgendwas hat er vor - ich wüsste zu gerne, was."
"Aber die Sachen hier gehören jetzt uns, oder?", fragte Huck.
"Fast. Er hat geschrieben, dass wir sie nur dann behalten dürfen, wenn er bis zum Frühstück nicht zurück ist."
"Was er aber ist!", vollendete Tom theatralisch und betrat das Lager. Die Wirkung seines Erscheinens war ungeheuer. Bei einem üppigen Frühstück erzählte er von seinem nächtlichen Abenteuer. Dann legte er sich in den Schatten und holte den wohlverdienten Schlaf nach, während die anderen Piraten zum Fischen und auf Entdeckungsreise auszogen.