Tom fühlte sich einsam und verlassen. Keiner liebte ihn! Sein Entschluss stand fest: Er musste sein Schicksal in die Hand nehmen und das Leben eines Ausgestoßenen, eines Verbrechers führen! Ihm blieb keine andere Wahl.
Das Läuten der Schulglocke erreichte sein Ohr nur aus weiter Ferne. Er schluchzte. Nie mehr würde er diesen vertrauten Ruf hören - das war schlimm! Jetzt weinte Tom bitterlich.
In diesem Augenblick begegnete er seinem Busenfreund, Joe Harper, der mit finsterem Blick des Weges kam. Ganz offensichtlich begegneten sich hier zwei Seelen und ein Gedanke. Denn auch Joe fühlte sich schlecht behandelt und wollte hinaus in die Welt, um nie mehr zurückzukehren.
Nachdenklich gingen die beiden Freunde weiter. Sie versprachen, wie Brüder zusammenzubleiben, bis zu ihrem bitteren Ende. Dann begannen sie, Pläne zu schmieden. Joe wollte erst Einsiedler in einer Höhle sein und von milden Gaben leben; als er jedoch Toms Plan hörte, sah er ein, dass das Leben eines Gesetzlosen doch einige Vorteile bot. So willigte er ein, Pirat zu werden.
Fünf Kilometer unterhalb ihres momentanen Standortes lag Jacksons Insel. Da die Insel unbewohnt war und nicht weit vom Flussufer entfernt lag, bot sie ein ideales Versteck. Dort wollten sie sich niederlassen. Wer allerdings das Opfer ihrer Piraterien werden sollte, überlegten sie nicht.
Zunächst einmal trieben sie Huckleberry Finn auf, der sich ihnen sofort anschloss. Dann trennten sie sich, nachdem sie sich für Mitternacht verabredet hatten. Noch bevor der Tag sich neigte, hatten sie alles erledigt. Nicht ohne vorher im Ort das Gerücht verbreitet zu haben, man werde bald etwas zu hören kriegen.
Um Mitternacht erschien Tom mit einem gekochten Schinken und einigen anderen Vorräten und machte auf einer schmalen Klippe Halt, von der aus er den Treffpunkt einsehen konnte. Die Nacht war sternenklar und windstill. Tom lauschte. Kein Geräusch störte die nächtliche Stille. Da ließ er einen kurzen, scharfen Pfiff ertönen. Von unterhalb der Klippe kam eine Antwort. Es folgte ein Wechsel von Geheimpfiffen und Namen. "Okay! Gebt die Losung!", verlangte Tom zum Schluss.
Zwei heisere Stimmen flüsterten gleichzeitig dasselbe Schreckenswort in die geheimnisvolle Nacht: "Blut!"
Tom warf seinen Schinken hinunter und kletterte hinterher, wobei Haut und Kleidung erheblich beschädigt wurden; ganz nach Piratenmanier.
Joe, der Schrecken des Ozeans, hatte eine Speckseite mitgebracht, die er kaum schleppen konnte, und Finn, der Rothändige, hatte eine Pfanne, einen Packen halb getrocknete Tabaksblätter und einige Maiskolben gestohlen, um daraus Pfeifen zu schnitzen. Allerdings waren die anderen beiden Piraten bisher Nichtraucher.
Tom, der Schwarze Rächer der Spanischen Meere meinte, dass sie keinesfalls ohne Feuer losfahren durften. Ein kluger Gedanke! Damals kannte man Streichhölzer noch kaum. Ein Stück flussaufwärts sahen sie auf einem Floß ein Feuer glühen. Sie schlichen dorthin und raubten ein glühendes Holzscheit. Sie wussten, dass die Flößer alle in der Stadt waren. Dann stießen sie ab.
Tom führte das Kommando, Huck bediente das hintere Ruder und Joe das vordere. Tom stand mit verschränkten Armen in der Mitte des Floßes und gab im Flüsterton seine Befehle. Als sie die Mitte des Flusses überquert hatten, richteten die Jungen das Floß aus und ließen sich treiben. Nach einer dreiviertel Stunde sahen sie in der Ferne das Städtchen liegen. Nach einiger Zeit trieben sie daran vorbei und nahmen mit ihren Blicken versunken Abschied. Fast wären sie an Jacksons Insel vorbeigetrieben. Gerade noch rechtzeitig gelang es ihnen, das Floß ans Ufer zu lenken. Gegen zwei Uhr morgens lief das Floß auf der Sandbank auf.
Eifrig richteten sie sich darauf ein, unter freiem Himmel zu schlafen, so wie es sich für Gesetzlose gehörte. Sie zündeten ein Feuer an und brieten Speck in der Pfanne und aßen dazu die Hälfte ihrer mitgebrachten Maisbrote. Es machte allen Dreien riesig Spaß und sie versprachen sich, nie wieder zurückzugehen. Erst als die letzte Scheibe Speck vertilgt war, streckten sich die Freunde satt und zufrieden im Gras aus.
Leise unterhielten sie sich noch über ihre Schulkameraden, die bei ihrem Anblick sicher vor Neid erblassen würden. Und über die Vorteile des Piratenlebens; so ganz ohne Schule, ohne sich zu waschen und all dem übrigen Kram.
Huck, der Rothändige, hatte in der Zwischenzeit einen Maiskolben ausgehöhlt, befestigte einen Stängel daran, stopfte Tabak hinein und presste ein Stück Holzkohle darauf. Die beiden anderen Seeräuber beneideten ihn sehr um dieses Laster, und sie beschlossen insgeheim, recht bald rauchen zu lernen.
"Was machen Piraten eigentlich so?", fragte Huck unvermittelt.
"Oh, die führen ein prima Leben!", erwiderte Tom. "Sie rauben Schiffe aus und verbrennen sie, dann schnappen sie sich das Geld und vergraben es auf einer ihrer Inseln. Die Leute auf den Schiffen bringen sie um, die lassen sie über die Klinge springen…"
Und sie tragen wundervolle Kleider, mit Gold, Silber und Diamanten übersät", begeisterte sich Joe.
Huckleberry sah gedankenvoll an sich herunter. "Ich glaube, ich bin für einen Piraten nicht fein genug", sagte er schließlich mit Bedauern in der Stimme. Doch die anderen beruhigten ihn. Sie erklärten, dass die prächtige Kleidung sehr rasch wie von selbst kommen würde, wenn sie erst auf Abenteuer auszögen.
Langsam wurden sie müde und Huck glitt die Pfeife aus der Hand und er fiel in den Schlaf des Gerechten.
Tom und Joe brauchten etwas länger zum Einschlafen. Heimlich sprachen sie ihre Nachtgebete, weil sie nicht den Zorn des Himmels heraufbeschwören wollten. Gerade als sie fast eingeschlafen wären, schlich sich ein Störenfried ein: ihr Gewissen. Vor allem, wenn sie an die gestohlenen Lebensmittel dachten - diesmal ließ es sich nicht so leicht beruhigen. Der Diebstahl von Schinken und Speck war etwas völlig anderes als der von Äpfeln und Süßigkeiten. Dafür gab es sogar ein Gebot in der Bibel. So beschlossen beide, dass sie ihr Piratenleben nicht mehr mit der Sünde des Stehlens belasten wollten. Dann gab das Gewissen Ruhe und die beiden Piraten sanken in friedlichen Schlummer.