Plötzlich warf das junge Mädchen den Brief vor die alte Dame auf den Tisch und rief mit erstickter Stimme:
„Da hast du ihn! Aber du handelst schlecht, du tötest mich!“
Und leidenschaftlich schluchzend ging sie hinaus.
Peinlich berührt schaute Ilse ihr nach. Sie vermochte das Kind nicht zu verdammen, denn in diesem heftigen Ausbruch erkannte sie sich selbst wieder, wie sie vor vielen Jahren gewesen war. Sie fragte sich, wie sie in Irmas Alter unter denselben Verhältnissen gehandelt haben würde, und kam zu der Einsicht, daß „der Trotzkopf“ von damals vielleicht noch viel trotziger, eigensinniger und ungehorsamer gewesen wäre. Doch diese Selbsterkenntnis machte sie in ihrem Entschluß nicht wankend; wie groß ihr Mitleid mit dem Kinde auch war, sie mußte fest bleiben und durfte sich nicht von ihrem Gefühle beherrschen lassen.
So nahm sie denn den Brief mit einem Seufzer auf, veränderte die Adresse und sandte ihn zurück.
Noch nie war das Verhältnis zwischen Enkelin und Großmutter so unfreundlich gewesen, wie in den Tagen und Wochen, die nun folgten. Schweigend, mit einem Ausdruck, der ihr reizendes Gesichtchen entstellte, saß Irma bei den Mahlzeiten; sie sprach kaum ein Wort, und all die kleinen Vertraulichkeiten, die lieblichen Neckereien und Aufmerksamkeiten, die das Leben der beiden so gemütlich und fröhlich gemacht, hatten ein Ende. Ilse beklagte sich darüber nicht. So viel sie konnte, tat sie, als bemerke sie die Veränderung nicht, sondern bemühte sich unbefangen und liebevoll wie gewöhnlich zu sein. Sie fühlte Mitleid mit dem Kinde und schaute es nur dann traurig und vorwurfsvoll an, wenn sie auf eine freundliche Anrede eine schnippische und ungezogene Antwort bekam.
Arme, kleine Irma! Sie konnte sich nicht aufraffen; bisher war ihr Leben ein sonniges und ungetrübtes gewesen. Kummer und Enttäuschung waren ihr unbekannte Gäste, mit denen sie sich nicht abzufinden wußte. Am meisten verletzte es sie, daß sie gar so wenig Verständnis fand, wenn sie ihr Leid klagen wollte. Der Großmutter stand sie direkt feindlich gegenüber, und Agnes schalt darüber, daß sie sich so abscheulich benahm. Der Einzige, bei dem sie, wenn auch keinen Trost, so doch zärtliche Anteilnahme fand, war onkel Heinz. Er teilte vollständig die Ansicht seiner alten Freundin Ilse, das wußte Irma, und in seiner Gegenwart legte sie ihrer Ungezogenheit und schlechten Laune Zügel an. Andrerseits aber bemühte er sich nach Kräften, sie aufzuheitern, indem er allerlei nette Pläne ausheckte, ihr häufig etwas mitbrachte, und sie überhaupt mehr verhätschelte denn je.
Eines Abends, etwa drei Wochen nach den erzählten Vorfällen, zeigte er dem jungen Mädchen eine Zeitungsnotiz des Inhalts, daß Baron von Hochstein sein Referendarexamen gemacht habe. Mit dunkelrotem Gesichtchen und glänzenden Augen schaute sie zu ihm auf, nahm ihm dann das Blatt aus der Hand und ging damit zur Großmutter. Ilse las; auch sie war angenehm überrascht.
„Na, Irma,“ sagte sie freundlich, „nun hoffe ich von Herzen, daß dein Freund unsrer Spannung rasch ein Ende macht; niemand wäre froher als ich, wenn er beweisen kann, daß ich ihn falsch beurteilt habe.“
„Das wird er sicher können, Großmama,“ versetzte Irma triumphierend.
Die nächsten Tage verbrachte sie in fieberhafter Erregung, die sich noch steigerte, so oft sie den Postboten erwartete. Sie sprach wieder und wieder mit der Großmama über die Möglichkeit, ja Gewißheit, daß sie von dem alten Baron oder von Otto Nachricht bekommen würden, sie hielt an ihren alten Illusionen fest und wollte das Angstgefühl, das sie oft beschlich, nicht aufkommen lassen. Tage, Wochen vergingen, keine Nachricht kam. Da flehte sie, an ihn schreiben zu dürfen, um anzufragen, ob er mit seinem Vater gesprochen habe. Ilse weigerte sich entschieden, diese Erlaubnis zu geben.
„Ich tue es doch,“ rief Irma, „ich muß Gewißheit haben. So kann ich nicht weiter leben.“
„Du mußt wissen, was du tust,“ entgegnete die Großmutter ruhig. „Wenn du dich so erniedrigst, deine weibliche Würde mit Füßen trittst und mir ungehorsam bist, schreibe ich noch heute an deine Eltern, dann ist hier kein Platz mehr für dich.“
Vor Aufregung bebend blickte das junge Mädchen die alte Dame an, aber in den ernsten, dunklen Augen war nur unbeugsame Festigkeit zu lesen. Zornig mit den Füßen stampfend wandte Irma sich ab.
Die Versuchung, ungehorsam zu sein und ihrer Sehnsucht nachzugeben, wäre vielleicht doch übermächtig geworden, da kam endlich die erwartete Entscheidung, wenn auch in ganz anderer Weise, als sie sich eingebildet hatte.
Einige Tage nach dem geschilderten Ausbruch nämlich reichte Ilse ihrer Enkelin einen offenen Brief, der in der wohlbekannten Hand ihre Adresse trug.
Das Blut stieg Irma ungestüm in die Wangen, dann wurde sie totenblaß und öffnete zitternd das Blatt.
Es war eine gedruckte Anzeige der Verlobung des Barons Otto von Hochstein mit der Freiin Laura von Staufenberg.