„Irma,“ begann die alte Dame sehr sanft, „du bist doch wohl überzeugt, daß ich dich von ganzem Herzen lieb habe und alles tun möchte, um dir Kummer zu ersparen, nicht wahr?“
„Ja, Großmama.“
„So höre mich an, Kindchen. Ich glaube, du wirst dir die Geschichte mit Hochstein aus dem Sinn schlagen müssen; denn ich fürchte, er hat mit deinem hingebenden Vertrauen schändlichen Mißbrauch getrieben, und es hat nie in seiner Absicht gelegen, sich mit dir zu verloben und dich zu seiner Frau zu machen.“
„Du fürchtest nur, Großmama, bist also doch nicht fest davon überzeugt. Was hat er denn gesagt?“
„Aus seiner ganzen Haltung, seinem Wesen, seinem Tun und Handeln ist mir das, was ich fürchtete, zur Gewißheit geworden. Ich habe ihm gesagt, daß sein Vater entweder bei mir oder bei deinen Eltern um deine Hand für seinen Sohn anhalten muß. Wenn das geschieht, reden wir weiter darüber. Aber bis dahin dürft ihr keinerlei Verkehr miteinander haben.“
Irma schwieg.
„Ihr dürft euch weder sehen, noch schreiben. Ich erwarte beinahe mit Bestimmtheit, daß der junge Mensch durch leidenschaftliche Briefe versuchen wird, dich zum Ungehorsam zu verleiten. Wenn er dir schreibt, darfst du seine Briefe nicht lesen, sondern mußt sie mir geben.“
„Großmama!“
„Ich werde sie nicht lesen, sondern ihm uneröffnet zurücksenden.“
„Nein, Großmama, das tue ich nicht,“ rief Irma, ihre Ruhe verlierend. „Er würde denken, daß ich nichts mehr von ihm wissen will. Du hast nicht das Recht, ihn so zu behandeln. Warten wir, bis er sein Examen gemacht hat. Wenn er dann nicht mit seinen Eltern spricht und nicht tut, was er mir gelobt hat, und worauf ich fest vertraue, dann magst du ihn verurteilen.“
Ilse wurde über den nichts weniger als ehrerbietigen Ton, in dem ihre Enkelin mit ihr sprach, nicht böse, sondern nahm die Hände des Mädchens sanft in die ihrigen und sagte ernst:
„Ich habe ihm verboten, irgend welche Beziehungen mit dir zu unterhalten. Handelt er meinem ausdrücklichen Wunsch zuwider, so zeigt er, daß er kein Ehrenmann ist. Überdies wird er sehr wohl begreifen, daß nicht du, sondern ich seine Briefe zurücksende. Gottlob wird's ja nicht lange dauern, bis wir vollkommene Klarheit haben. Er hat gelogen, als er sagte, daß er in drei bis vier Monaten sein Examen mache. onkel Heinz weiß, daß es in eben so viel Wochen stattfindet.“
„Er hat mich überraschen wollen,“ rief Irma mit bebenden Lippen, und bemühte sich tapfer, ihre Tränen zurückzudrängen.
Ilse schlang die Arme um sie und küßte sie.
„Mein armes, liebes Kind,“ sagte sie gerührt. „Es klingt hart, und doch muß ich es aussprechen. Sei nicht zu hoffnungsvoll, sondern bereite dich auf eine Enttäuschung vor. Ich fürchte, daß dir großes Leid bevorsteht, ein Kummer, den wir alle, die wir dich lieb haben, mit unsrer Sorge und Teilnahme dir nicht ersparen, nicht erleichtern können, den du ganz allein durchkämpfen mußt.“
Sie ging hinaus und ließ das junge Mädchen allein. Irma begab sich auf ihr Zimmer. Allerhand romantische Ideen gingen ihr im Kopf herum. Sie empfand Zorn und Bitterkeit gegen ihre Großmutter. Wie kam diese nur dazu, sich unberufen in Dinge zu mischen, die im Grund nur sie, Irma, angingen. Sie war doch schließlich nicht ihre Mutter. Und die Kleine überlegte, ob es nicht das Klügste wäre, ganz heimlich nach München abzudampfen, ihren Eltern alles zu erzählen und ihre Entscheidung anzurufen; aber erstens bangte ihr davor, die weite Reise allein zu unternehmen, zweitens fehlte ihr das nötige Geld, und endlich sagte ihr eine geheime Stimme in ihrem Innern, daß ihre Eltern der Großmama recht geben, ja vielleicht noch strenger auftreten würden — das war also nichts. Dann dachte sie daran, Gustav zu Hilfe zu rufen. Aber so, wie sie ihren Bruder kannte, sah sie ein, daß er ihr nicht helfen könne. Von Agnes war auch nichts zu erwarten. Endlich kam sie auf die verzweifelte Idee, allem und allen zu trotzen, zu Otto zu gehen und ihm zu sagen, daß sie ihn liebe, ihm vertraue und ohne ihn nicht leben könne. Wußte auch er keinen Ausweg, so wollten sie zusammen auf und davon gehen — alles war besser, als voneinander zu lassen.