»Gehen Sie zum Marquis«, sagte sie zu ihm. »Jacques, mein Kammerdiener, wird Sie hinführen und Ihnen einen Brief für ihn geben. Ich verlange von ihm die Herausgabe meiner Briefe. Ich hoffe, daß er sie Ihnen vollzählig ausliefern wird. Wenn Sie die Briefe haben, kommen Sie in mein Zimmer. Man wird mich benachrichtigen.«
Sie erhob sich, um ihrer besten Freundin, der Herzogin von Langeais, entgegenzugehen. Rastignac eilte zum Palais Rochefide, wo er den Marquis d'Ajuda zu sprechen wünschte. Der Marquis führte ihn zu seiner Wohnung, überreichte ihm ein Kästchen und sagte: »Sie sind alle darin.«
Er schien Eugen sprechen zu wollen, sei es, um ihn über die Ereignisse des Balles auszufragen und über die Vicomtesse, sei es, um ihm zu gestehen, daß die Verzweiflung über seine Heirat, die ihn später ergriff, vielleicht schon im Entstehen war. Aber aus seinen Augen strahlte der Stolz, und er hatte den traurigen Mut, über seine edelsten Empfindungen Schweigen zu bewahren.
»Sprechen Sie mit ihr nicht über mich, mein lieber Eugen.« Er drückte Rastignac mit wehmütiger Zärtlichkeit die Hand und gab ihm durch ein Zeichen zu verstehen, er möge sich entfernen. Als Eugen ins Palais Beauséant zurückkehrte und in das Zimmer der Vicomtesse eingelassen wurde, sah er, daß alles zu einer Reise gerüstet war. Er setzte sich an den Kamin, betrachtete die Kassette aus Zedernholz und versank in tiefe Melancholie. Für ihn bedeutete Madame de Beauséant eine Art Gottheit der »Ilias«.
»Ah, mein Freund!« sagte die Gräfin, als sie eintrat. Sie stützte sich mit der einen Hand auf Eugens Schulter. Er sah, wie sie in Tränen aufgelöst war und wie die andere Hand, die zu dem Kasten griff, zitterte. Sie warf die Kassette ins Feuer und sah zu, wie sie verbrannte.
»Sie tanzen! Sie sind pünktlich eingetroffen; nur der Tod kommt zu spät. Pst, mein Freund!« sagte sie, Eugen, der etwas sagen wollte, die Hand auf den Mund legend.
»Ich werde die Gesellschaft und ich werde Paris nicht mehr sehen. Um fünf Uhr morgens breche ich auf, um mich in einen Winkel der Normandie zu begeben. Seit drei Uhr nachmittags mußte ich meine Reisevorbereitungen treffen, Schriftstücke unterzeichnen und meine Geschäfte erledigen; ich konnte daher niemanden schicken . . .«
Sie unterbrach sich. »Es war gewiß, daß Sie ihn dort treffen würden.«
»Aber«, fuhr sie fort, »ich rechnete auf Sie für diesen letzten Dienst. Ich möchte Ihnen ein Pfand meiner Freundschaft geben. Ich werde oft an Sie denken, denn Sie erschienen mir gut und edel, jung und ohne Falsch inmitten einer Welt, in der diese Eigenschaften so selten sind. Ich hoffe, daß Sie mitunter an mich denken werden. Hier«, sagte sie umherschauend, »ist mein Handschuhkasten. Stets, wenn ich zu ihm griff, um zum Ball oder ins Theater zu gehen, fühlte ich mich schön, weil ich glücklich war, ich berührte ihn nicht, ohne von frohen Gedanken erfaßt zu werden. Es ist viel von mir selbst darin, eine ganze Madame de Beauséant, die nicht mehr ist; nehmen Sie ihn. Ich werde ihn in Ihre Wohnung in der Rue d'Artois bringen lassen. Madame de Nücingen sieht heute abend sehr gut aus, lieben Sie sie sehr! Wenn wir uns nicht mehr sehen sollten, mein Freund, so seien Sie sicher, daß ich Sie, der Sie so gut zu mir waren, stets in mein Gebet einschließen werde. Gehen wir hinunter, ich will nicht, daß man vermutet, ich weinte. Die Ewigkeit liegt vor mir, ich werde allein sein, und niemand wird für meine Tränen Rechenschaft fordern können. Noch ein Blick auf dieses Zimmer.«