Ende August rückte Hansi wieder in die Anstalt ein. Er brachte ein sonnenverbranntes Gesichtchen mit und frohe, blanke Augen, in denen sich viel Liebes gespiegelt hatte. Das war deutlich zu sehen. Und ebenso deutlich war zu sehen, wie die Augen allmählich den frohen Glanz verloren und wieder den alten suchenden, verträumten Ausdruck gewannen.
Und doch war eigentlich niemand unfreundlich mit dem Kleinen. Nur ... es hatte niemand Zeit für ihn. Das war es. Die Hausmutter und die Mägde hatten alle Hände voll mit dem großen Haushalt. Der Hausvater und die Lehrer beschäftigten sich wohl auch außer den Stunden mit den Buben, aber Hansi war meist zu klein, um bei den verschiedenen Unternehmungen mittun zu können. Nur der Singlehrer gab sich hie und da mit ihm ab. Der hatte ihn einmal ein Lied, das ihn seine Ayah gelehrt, singen hören, und seither durfte Hansi in der Singstunde der Kleinen mitsingen. Ja, und manchmal durfte er auch noch nach der Stunde eine Weile bei dem freundlichen Herrn bleiben, der ihm auf dem Klavier allerlei vorspielte.
Gleich nach Vater und Mutter und den Blumen liebte Hansi die Musik. Aber es mußte schöne sein. Die Übungsstücke der Buben waren ihm zuwider. Auch der Lehrer spielte nicht immer schön nach Hansis Meinung. »Schön« waren nur die feinen, zarten Töne, die einen wie liebe Hände streichelten. — —
Der Herbst brachte eine große Freude für Hansi. Bei Vater und Mutter war ein Kindchen angekommen, ein kleines Schwesterlein, das mit ebenso erstaunten Blauaugen in die Welt gucke, wie es Hansi getan. Als das kleine Ding ein paar Wochen alt war, wurde es photographiert, und Hansi erhielt ein Bildchen.
Er betrachtete es mit strahlenden Augen, dann lief er zur Hausmutter. »Nicht wahr, Tante, einmal hat der liebe Gott gedacht: Nun will ich mal ein süßes, kleines Mädchen machen, und da hat er Käthe gemacht.«
»Ja, ja, das wird wohl so sein,« lächelte die Tante. Dabei setzte sie den großen Wäschekorb, den sie eben auf den Boden tragen wollte, wieder ab, um Hansi einen Kuß zu geben.
Hansi trug das Bildchen immer bei sich in der Tasche seiner Matrosenbluse. Wenn er sich sehr klein und verlassen vorkam, zog er es hervor und setzte sich damit in die Nähe der Gärtchen, um den Blumen von der kleinen Schwester zu erzählen. Sie verstanden ihn sehr gut, besonders die Dahlien, die mit ihren dicken Köpfen so vergnügt und wohlgenährt dreinsahen. Sie erinnerten Hansi immer an einen Buben des Hauses, der rote Pausbacken hatte und immer zufrieden war. Die Blumen waren überhaupt wie die Menschen. Sie hatten ihre eigenen Gesichter und ihr eigenes Wesen. Die Stiefmütterchen waren wie liebe, freundliche Kinderchen, aber die Rosen trugen sich stolz und hatten wundervolle Seidenkleider, daß man sie gar nicht anzufassen wagte. Noch schlimmer waren die Lilien, die so steif und gerade standen, nie sich hin und her wiegten und flüsterten wie die bunten Nelken. Doch die Liebste von allen war die Sonnenblume. Sie war die Mutter aller Blumen. Es konnte nicht anders sein. Sie glich ganz und gar einer freundlichen, liebespendenden Mutter.
Aber nun waren die Sonnenblumenmutter und alle ihre Sommerkinder verblüht. In den Gärten standen außer Dahlien nur noch Chrysanthemen. Der große Ernst hatte sein ganzes Stückchen Land damit bepflanzt. Da waren violette und bronzefarbene, blaßgelbe und weiße. Hansi liebte die weißen am meisten, denn sie sahen drein wie Sterne, und er mußte bei ihrem Anblick immer an den Stern von Bethlehem, an Weihnachten denken.
Und Hansi freute sich auf Weihnachten! Ganz weh tat ihm oft das Herz, weil es so voller Freude und Erwartung war. Zwar war es traurig, daß auch die bunten Herbstblumen verblühen mußten, und daß der weiße Schnee, der so naß und kalt war, alles zudeckte. Hansi konnte nicht verstehen, daß er die Blumen warm halte, wenn es ihm die andern auch noch so oft vorsagten. Nein, die Blumen waren alle tot und konnten sich nie mehr durch den dicken Schnee hinausfinden.
Das war furchtbar traurig. Aber Hansi wollte nicht daran, sondern an das wunderschöne Christfest denken. Er lernte viele Weihnachtslieder. Ja, der Lehrer ließ ihn ganz allein ein altes Lied singen, das fing an: »O Jesulein süß, o Jesulein mild.« Es waren ein paar Worte drin, die Hansi nicht verstand. Aber das schadete nichts. Die Melodie war süß und zart, gerade wie ein Lied sein muß, das man dem Jesuskindlein in der Krippe singen darf.