Das Wiseli stand ganz verwundert da. Kein Mensch hatte um seine Mutter geweint, und es selbst hatte nur weinen dürfen, wenn es niemand sah. Denn der onkel wollte ja kein Geschrei, hatte er gesagt, und vor der Tante durfte es noch weniger weinen. Und nun war auf einmal jemand da, dem kamen die Tränen, weil es etwas von der Mutter gesagt hatte. Dem Wiseli wurde es so zumute, als wäre der Schreiner Andres sein liebster Freund auf der Welt, und es faßte eine große Liebe zu ihm. Jetzt rannte es mit seinen Nelken davon und war wie der Blitz am Buchenrain angelangt. Und das war gut, denn eben sah es, wie die beiden Buben dem Haus zuliefen, und es durfte um alles nicht nach ihnen daheim ankommen.
An diesem Abend betete Wiseli mit so frohem Herzen, daß es gar nicht begriff, wie es gestern so verzagt hatte sein können und gar keine Zuversicht und Freude gehabt hatte, sein Lied zu sagen. Der liebe Gott hatte es gewiß nicht vergessen, das wollte es nicht mehr denken. Heute hatte er ihm ja so viel Freude bereitet, und beim Einschlafen sah Wiseli noch das gute Gesicht des Schreiner Andres vor sich mit den Tränen darauf.
Am folgenden Tag, es war nun Mittwoch, erlebte Otto die gleiche Überraschung wie am Tag vorher, denn er hatte sich nicht enthalten können, mit den andern aus der Schulstube hinauszurennen im ersten Augenblick der Befreiung. Als er dann an seine Arbeit gehen wollte und die Tür aufmachte—da war schon alles getan und die Stube in bester Ordnung.
Nun fing aber die Sache an, seine Neugierde zu erregen. Auch war er dem unbekannten Wohltäter so dankbar, daß es ihn drängte, das auszusprechen. Am Donnerstag wollte er aufpassen, wie die Sache zugehe.
Als nun die Schulstunden zu Ende waren und alles fortlief, stand Otto einen Augenblick nachdenklich an seinem Platz. Er wußte nicht recht, wo er am besten dem Wohltäter auflauern konnte. Aber mit einemmal faßte ihn eine Schar rüstiger Kerle, seine Klassengenossen, an allen Ecken an, und die Stimmen riefen durcheinander: "Komm heraus! Heraus mit dir! Wir machen Räuber, du bist der Anführer."
Otto wehrte sich ein wenig. "Ich muß ja diese Woche Ordnung machen", rief er.
"Ach, was", erwiderten sie, "wegen einer Viertelstunde. Komm!"
Otto ließ sich fortreißen, in der Stille verließ er sich schon ein wenig auf seinen unbekannten Freund, der ihn vor der Strafe schützen würde. Er fand es unbeschreiblich angenehm, eine solche Fürsorge im Rücken zu haben. Aus der Viertelstunde wurde auch mehr als eine Stunde, und Otto wäre verloren gewesen. Er lief keuchend zur Schulstube zurück, um sich seinem Schicksal zu stellen, und stieß dabei die Tür mit solchem Gepolter auf, daß der Lehrer augenblicklich aus seiner Stube ins Lehrzimmer trat.
"Was hast du gewollt, Otto?" fragte der Lehrer.
"Nur noch einmal nachsehen", stotterte Otto, "ob auch sicher alles in Ordnung sei."
"Musterhaft", bemerkte der Lehrer. "Dein Eifer ist löblich, aber die Türen dabei halb einzuschlagen, ist nicht notwendig."
Otto ging gutgelaunt davon. Am Freitag war er entschlossen, den
Fleck nicht zu räumen, bis er im klaren war, denn da kam für ihn
nur noch der Samstagmorgen. Da wurde freilich immer noch groß
Ordnung gemacht.
"Otto", rief der Lehrer, als am Freitag die Glocke vier Uhr schlug, "trag mir schnell das Zettelchen zum Herrn Pfarrer, er gibt dir Bücher zurück. In fünf Minuten bist du wieder da zum Aufräumen."
Das war Otto nicht ganz recht, aber er mußte gehen. Außerdem konnte er ja gleich wieder da sein. In wenig Sprüngen war er im Pfarrhaus.
Der Herr Pfarrer unterhielt sich noch mit jemandem. Die Frau Pfarrerin rief Otto in den Garten hinaus, er mußte ihr berichten, wie es der Mama gehe und dem Papa und dem Miezchen und dem onkel Max und den Verwandten in Deutschland. Und dann kam der Herr Pfarrer, und Otto mußte erklären, wie er zu dem Auftrag gekommen war und was ihm der Lehrer sonst noch gesagt habe. Endlich hatte dann Otto seine Bücher erhalten, und pfeilschnell war er drüben, riß die Tür der Schulstube auf—alles in Ordnung, alles still, kein menschliches Wesen zu sehen.
Nun habe ich mich die ganze Woche nicht ein einziges Mal nach den grausigen Fetzen bücken müssen, dachte Otto befriedigt. Aber wer hat die schreckliche Arbeit getan, ohne daß er mußte? Das wollte er nun um jeden Preis wissen.
Am Samstag waren die Schulstunden um elf Uhr zu Ende. Otto ließ alle Kinder hinausgehen, und als nun die Schulstube leer war, trat er vor die Tür hinaus, schloß sie zu und lehnte sich mit dem Rücken daran. So mußte er doch gewiß sehen, ob da jemand hineingehen würde, denn damit wollte er lieber beginnen als mit der schweren Arbeit. Er stand und stand—es kam niemand. Er hörte die Uhr halb zwölf schlagen—es kam niemand. Am Nachmittag stand aber ein Ausflug bevor, es sollte heute früh zu Mittag gegessen werden. Er sollte so schnell wie möglich zuhause sein. Er mußte also hinein an die Arbeit, es grauste ihm. Er öffnete die Tür—da—Otto riß noch mehr als das erstemal die Augen auf—wirklich, es war alles getan, schöner als je.
Dem Otto wurde es ganz eigentümlich zumute. Ob da irgendwelche Geister ihre Hände im Spiel hatten? Ganz leise, wie nie sonst, schlich er zur Tür hinaus. Gerade in diesem Augenblick kam ebenso leise etwas aus des Lehrers Küche geschlichen, und auf einmal stand das Wiseli ganz nahe vor ihm. Beide fuhren zusammen vor Schrecken, und das Wiseli wurde so rot, als hätte es der Otto bei einem Unrecht erwischt. Jetzt ging ihm ein Licht auf.
"Sicher hast du das für mich gemacht die ganze Woche lang, Wiseli", rief er aus. "Das tut doch gewiß sonst kein Mensch, wenn er nicht muß."
"Ich habe es aber so gern getan", gab Wiseli zur Antwort.
"Nein, nein, das mußt du nicht sagen, Wiseli. So etwas kann kein
Mensch auf der Welt gern tun", sagte Otto überzeugt,
"Doch—gewiß", versicherte Wiseli, "ich habe die ganze Zeitlang mich immer auf den Abend gefreut, wenn ich es wieder tun durfte, und während ich aufräumte, habe ich mich erst recht immerzu gefreut, weil ich immer gedacht habe: jetzt kommt der Otto und findet alles fertig und ist froh."
"Aber wie bist du denn darauf gekommen, daß du das für mich tun wolltest?" fragte Otto verwundert.
"Ich wußte schon, daß du es nicht gern tust, und ich habe schon immer gedacht, wenn ich nur einmal dem Otto etwas geben könnte, wie du mir den Schlitten, weißt du noch? Aber ich hatte nie etwas."
"Das ist viel mehr wert, als einen Schlitten leihen, was du für mich jetzt getan hast. Das will ich dir auch nicht vergessen, Wiseli." Und Otto gab ihm ganz gerührt die Hand. Wiselis Augen leuchteten vor Freude wie lange nicht mehr. Aber nun wollte Otto noch wissen, wie es denn wieder in die Stube hineingekommen sei, da er doch gewartet hatte, bis alle Kinder draußen waren.
"Oh, ich bin gar nicht hinausgegangen", sagte Wiseli. "Ich verbarg mich schnell hinter dem Kasten, ich dachte, du gehst schon noch ein wenig hinaus wie jeden Tag vorher."
"Aber wie konntest du immer hinaus, ohne daß ich dich sah?" wollte
Otto noch wissen.
"Wenn du mit den anderen herumliefst, konnte ich schon hinaus. Ich paßte schon auf. Und gestern und heute, als ich nicht sicher war, ging ich durch die Stube des Lehrers und fragte die Frau Lehrerin, ob sie etwas für mich zu tun habe Sie gibt mir manchmal einen Auftrag auszurichten, und dann ging ich durch die Küche fort. Gestern war ich gerade hinter der Küchentür, als du in die Schulstube ranntest."
Jetzt kannte Otto die ganze Geistergeschichte. Er gab dem Wiseli noch einmal die Hand. "Danke, Wiseli", sagte er herzlich. Und dann lief eins da hinaus, das andere dort hinaus, und beide waren froh und zufrieden.