In seinem Kummer konnte es oft lange sein Trostlied nicht sagen. Es kam aber zu keiner Ruhe und konnte nie einschlafen, bis es die Worte wieder recht zusammengefunden und sie mit Andacht hatte sagen können, wenn ihm auch die frohe Zuversicht nicht recht im Herzen aufgehen wollte.
So war das Wiseli auch eingeschlafen an einem schönen Juliabend, und am Morgen darauf stand es zaghaft unten am Tisch, als die Buben zur Schule aufbrachen. Es wagte nicht zu fragen, ob es auch gehen dürfe, denn die Tante schien keine Zeit zu einer Antwort zu haben und der onkel hatte das Haus schon verlassen.
Jetzt liefen die Buben davon. Wiseli schaute ihnen nach durch das offene Fenster, wo sie zwischen den hohen Wiesenblumen hinsprangen und über ihren Köpfen die weißen Schmetterlinge in der Morgensonne umherflogen. Die Tante hatte eine große Wäsche vorbereitet. Mußte es wohl diese Woche am Waschtrog zubringen? Richtig, sie rief schon nach ihm aus der Küche. Jetzt rief auch der onkel nach Wiseli. Er stand am Brunnen und sah es am Fenster. "Mach, mach, Wiseli, es ist Zeit, die Buben sind ja weit voraus. Das Heu ist drinnen, mach, daß du in die Schule kommst!"
Das ließ sich Wiseli nicht zweimal sagen. Wie ein Blitz erfaßte es seinen Schulsack und lief zur Tür hinaus.
"Sag dem Lehrer", rief der onkel ihm nach, "du wurdest jetzt eine Zeitlang nicht fehlen. Er soll's nicht so genau nehmen, wir haben viel mit dem Heu zu tun gehabt."
Wiseli lief glücklich davon. So mußte es sich nicht an den Waschtrog stellen, es durfte die ganze Woche in die Schule gehen. Wie war es schön ringsum! Von allen Bäumen pfiffen die Vögel, und das Gras duftete, und in der Sonne leuchteten die roten Margeriten und die gelben Butterblumen. Wiseli konnte nicht stehenbleiben, es war keine Zeit dazu. Aber es fühlte, wie schön die Landschaft war, und lief voller Freuden mittendurch.
Am selben Abend, als eben alle Kinder aus der dumpfen Schulstube in den sonnigen Abendschein hinausstürmen wollten, rief der Lehrer in den Tumult hinein: "Wer hat in dieser Woche Ordnungsdienst?"
"Der Otto, der Otto!" rief die ganze Schar und stürmte davon.
"Otto", sagte der Lehrer in ernstem Ton, "gestern ist hier nicht aufgeräumt worden. Einmal will ich dir verzeihen. Aber laß mich das nicht zweimal sehen, sonst müßte ich dich bestrafen.
Otto schaute einen Augenblick auf all die Nußschalen und Papierfetzen und Apfelschnitze, die am Boden herumlagen und aufgelesen sein sollten. Dann wandte er eilig den Kopf weg und lief ebenfalls hinaus, denn der Lehrer war auch schon durch seine Tür verschwunden. Draußen stand Otto auf dem sonnigen Platz, schaute in den goldenen Abend hinaus und dachte: Jetzt könnte ich heimgehen, und dann kriegte ich die Kappe voll Kirschen. Und dann könnte ich auf dem Braunen ins Feld hinausreiten, wenn der Knecht das Heu holt, und nun soll ich drinnen auf dem Boden Papierfetzen zusammenlesen?
Und Otto wurde durch seine Gedanken so aufgeregt, daß er ganz grimmig vor sich hin sagte: "Ich wollte, es käme gerade jetzt der jüngste Tag, und das Schulhaus und alles miteinander flöge in tausend Stücken in die Luft." Es blieb aber ringsum still und ruhig, und von dem alles beendenden Erdbeben waren keine Anzeichen da. Da kehrte sich endlich Otto wieder der Schultür zu, mit zornigem Gesicht, denn er wußte ja, in den sauren Apfel mußte nun gebissen werden. Oder morgen folgte die erniedrigende Strafe des Nachsitzens.
Er trat ein, aber beim ersten Schritt blieb er verwundert stehen. Völlig aufgeräumt lag die Schulstube vor ihm, keine Fetzchen und kein Stäubchen nirgends mehr zu sehen. Die Fenster standen offen, und die Abendluft strömte in die geputzte Stube hinein.
In dem Augenblick trat der Lehrer aus seinem Zimmer und schaute überrascht um sich und auf den Otto, der mit großen Augen dastand. Dann ging er zu dem Jungen und sagte ermunternd: "Du darfst wirklich dein Werk anstaunen, das hätte ich dir nicht zugetraut. Du bist ein guter Schüler, aber im Aufräumen hat du heute alle übertroffen, was sonst bei dir nicht der Fall war." Damit ging der Lehrer fort, und als sich Otto noch mit einem letzten Blick überzeugt hatte, daß er die Wirklichkeit vor sich sah, sprang er vor Freude in zwei Sätzen die Treppe hinunter und über den Platz weg. Er stürmte den Berghang hinauf, und erst als er der Mutter das wunderbare Ereignis mitteilte, fing er an zu überlegen, wie es sich zugetragen haben könnte.
"Aus Versehen wird wohl keiner für dich aufgeräumt haben", sagte die Mutter. "Hast du etwa einen guten Freund, der sich so edelmütig für dich aufopfert? Denk doch einmal nach, wie es sein könnte."
"Ich weiß es", sagte Miezchen entschieden, das eifrig zugehört hatte.
"Wer war es denn?" rief Otto, teils neugierig, teils ungläubig.
"Der Mauserhans", erklärte Miezchen mit voller Überzeugung, "weil du ihm vor einem Jahr einen Apfel gegeben hast."
"Ja, oder der Wilhelm Tell, weil ich ihm den seinigen nicht genommen habe vor ein paar Jahren. Das wäre wohl ebenso wahrscheinlich, du Wunder von einem Miez." Damit rannte Otto davon, denn jetzt war's höchste Zeit, wenn er den Ritt ins Heu nicht versäumen wollte.
Inzwischen sprang das Wiseli mit vergnügtem Herzen den Berg hinunter, vorbei an Schreiner Andres' Gärtchen. Dann machte es aber plötzlich kehrt und lief wieder zurück, denn es hatte im Vorbeilaufen so schöne, rote Nelken gesehen in dem Garten, die mußte es noch einmal ansehen, wenn es auch schon ein wenig spät war. Es dachte: Den Buben komme ich doch nach, die machen erst auf allen Wegen noch Kugelschieben.
Die Nelken leuchteten in der Abendsonne so schön und dufteten so herrlich über die niedere Hecke herüber dem Wiseli zu, daß es fast nicht mehr von der Stelle fort wollte, so gut gefiel es ihm da. Da trat auf einmal der Schreiner Andres aus seiner Tür heraus in das Gärtchen und kam auf das Wiseli zu. Er gab ihm die Hand über die Hecke und er sagte freundlich. "Willst du eine Nelke, Wiseli?"
"Ja, gern", antwortete es, "und dann sollte ich Ihnen auch noch etwas ausrichten von der Mutter."
"Von der Mutter?" fragte der Schreiner Andres erstaunt und ließ die
Nelken aus der Hand fallen, die er eben abgebrochen hatte.
Wiseli sprang um die Hecke herum und las sie auf. Dann sah es zu dem Mann auf, der ganz still dastand, und sagte: "Ja, noch zu allerletzte als die Mutter sonst nichts mehr mochte, hat sie von dem guten Saft getrunken, den Sie in die Küche gestellt haben. Und er hat ihr so gut geschmeckt, und dann hat sie mir aufgetragen, ich soll Ihnen sagen, sie danke Ihnen vielmal dafür und auch noch für alles Gute. Und sie sagte noch: 'Er hat es gut mit mir gemeint'." Jetzt sah Wiseli, wie dem Schreiner Andres große Tränen über die Wangen hinunterliefen. Er wollte etwas sagen, aber es kam nichts heraus. Dann drückte er dem Wiseli fest die Hand, wandte sich ab und ging ins Haus hinein.