Mina Harkers Tagebuch
23. September. Nach einer unruhigen Nacht geht es Jonathan schon viel besser. Er hat viel zu tun und darüber bin ich sehr froh. Die Arbeit lenkt seinen Geist ab und er bemüht sich sehr, den Anforderungen gerecht zu werden, die an ihn gestellt werden. Ich bin sehr stolz darauf, dass er - allem Schrecken zum Trotz - nun zu seiner alten Leistungsfähigkeit zurück gefunden hat und die Arbeit, die auf ihn zukommt, bewältigt. Er kann nicht einmal zum Lunch nach Hause kommen, so viel hat er zu tun. Ich dagegen habe meine Arbeiten alle erledigt. Ich werde nun sein Reisetagebuch nehmen und mich damit in mein Zimmer einschließen, um es zu lesen.
24. September. Oh, mein Gott! Was muss mein Jonathan gelitten haben! Ganz gleich, ob Wahrheit oder Einbildung, es muss das Grauen gewesen sein. Ob wohl ein Fünkchen Wahrheit darinnen steckt? Wann hat er diese Dinge geschrieben? Bevor er krank wurde oder danach? Ich werde es wohl nie erfahren, denn ich kann mit ihm nicht darüber sprechen. Nun aber haben wir diesen seltsamen Menschen gesehen. Dieser entsetzliche Graf ist hier in London. Was sagte Jonathan an unserem Hochzeitstag? "Nur wenn eine heilige Pflicht mich zwingen sollte die bitteren Stunden mir wieder zurückzurufen ..." Ist das hier vielleicht schon die heilige Pflicht? Was kann ich tun? Ich werde zunächst das Reisetagebuch, das ja im Stenogramm geschrieben ist, auf meiner Schreibmaschine übertragen. Dann haben wir es im Bedarfsfall für andere bereit. So kann ich auch vielleicht am Ende im Namen meines lieben Jonathans sprechen. Vielleicht wird Jonathan selbst mit mir über all das reden wollen.
Brief von Van Helsing an Frau Harker
24. September. Sehr verehrte Frau! Ich wende mich mit diesem vertraulichen Brief an Sie und Sie kennen mich insofern, als ich seinerzeit die traurige Nachricht vom Tode Ihrer Freundin Lucy sandte. Ich bitte um Verzeihung, dass ich Sie heute schon wieder behellige- Lord Godalming hat mich in den Stand gesetzt, Fräulein Lucys Briefe und Papiere zu lesen. Unter diesen Briefen waren auch einige von Ihnen. Ich schließe daraus, dass Sie mit Fräulein Lucy befreundet waren und sie lieb hatten. Liebe Frau Mina, um Lucys Willen beschwöre ich Sie, mir zu helfen. Es ist großes Unrecht geschehen und nun gilt es Leid zu verhindern, größeres Leid als Sie es sich vorstellen können. Wären Sie zu einem persönlichen Gespräch bereit?
Ich bin mit Dr. Seward und Lord Godalming (Lucys Arthur) gut befreundet. Dennoch muss die Sache einstweilen geheim gehalten werden. Wenn Sie mir die Erlaubnis erteilen, komme ich zu Ihnen nach Exeter, um Sie zu besuchen. Bitte verzeihen Sie nochmals, dass ich dieses Ansinnen an Sie stelle. Ich habe Ihre Briefe gelesen. Auch Ihr Gatte leidet, wenn ich Sie in den Briefen richtig verstanden habe. Klären Sie ihn bitte zunächst nicht auf, damit er nicht wieder krank wird. Ihr ergebener Van Helsing.
Mina Harkers Tagebuch
25. September. Ich habe Dr. Van Helsing telegrafiert. Er kommt noch heute mit dem Zug. Jetzt, da die Zeit immer näher rückt, merke ich, wie aufgeregt ich bin. Ob Van Helsing auch Licht in Jonathans düstere Geschichte bringen kann? Aber nein - er kommt ja wegen Lucy und nicht wegen Jonathan. Sein Reisetagebuch hat mich ganz in den Bann geschlagen und meine Fantasie schießt Kapriolen. Van Helsing hat Lucy in ihrer letzten Krankheit behandelt, also wird er mir einiges über sie berichten können. Sie muss wieder in die Gewohnheit des Schlafwandels verfallen sein, das arme Mädchen! Über meinen eigenen Angelegenheiten habe ich ganz vergessen, wie schlecht es Lucy schon in Whitby ging. Ich bin froh, dass ich mein Tagebuch ins Reine übertragen habe, so kann ich es Van Helsing aushändigen, wenn er etwas über Lucy wissen will. Jonathan ist unterwegs. Es ist das erste Mal, dass wir getrennt sein, seit wir verheiratet sind. Hoffentlich kann er sich von jeder Aufregung fernhalten.
Später. Van Helsing war hier und ist schon wieder fort. Alles war äußerst seltsam und in meinem Kopf dreht sich alles. Kann das alles wahr sein? Wenn ich Jonathans Tagebuch nicht gelesen hätte, hätte ich kein einziges Wort von dem geglaubt, was der Professor mir erzählte. Aber so ... Armer Jonathan, was musst du gelitten haben. Ich werde alles tun, um das Ganze von ihm fern zu halten, damit er sich nicht wieder so aufregen muss. Oder wäre es vielleicht besser für ihn, zu wissen, dass seine Augen und Ohren ihn damals nicht trogen? Dass alles so gewesen ist, wie er es aufgeschrieben hat? Vielleicht ist es ja der Zweifel, der ihn so quält und er wird ruhiger und gelassener, wenn er weiß, es ist alles wahr.
Van Helsing ist ein guter und kluger Mann. Ich glaube, wenn er morgen wiederkommt, werde ich ihn wegen Jonathan fragen. Vielleicht findet dann doch noch alles ein gutes Ende. Ich werde mich von nun an in der Praxis des Interviewens üben und alles, was wir gesprochen haben, möglichst wörtlich aufschreiben.
Van Helsing ist ein kräftig gebauter Mann von mittlerer Größe. Er hat einen breiten Brustkasten, einen schlanken Hals und einen fein geformten Kopf. Sein energisches Kinn ist glatt rasiert, der Mund breit und entschlossen, die Nase fein und gerade. Seine breite Stirn steigt steil an und fällt nach rückwärts über zwei weit auseinander stehende Ausbuchtungen, so dass sein rötliches Haar über die Schläfen und den Hinterkopf zurückfällt. Seine Augen sind blau und offen. Wir plauderten eine kleine Weile und ich fragte ihn, warum er mich zu sprechen wünsche.
"Verzeihen Sie, dass ich Ihre Briefe an Fräulein Lucy las, aber irgendwo musste ich beginnen. Sie waren mit ihr in Whitby. Sie führten zeitweise Tagebuch. Auch Fräulein Lucy führte ein Tagebuch, aber es setzt erst ein, nachdem Sie fort waren. Es war eine Nachahmung Ihres Tagebuchs. In Fräulein Lucys Tagebuch habe ich Eintragungen zu den Einflüssen gefunden, die sie zum Schlafwandeln brachten. Auch wird beschrieben, dass Sie einmal Lucy bei einer solchen Gelegenheit retteten. Ich bin über all das sehr bestürzt und bitte Sie daher, mir alles zu berichten, dessen Sie sich noch erinnern."
Ich lächelte den Professor an. "Ich kann Ihnen alles ganz genau berichten, denn ich habe seinerzeit alles aufgeschrieben. Ich kann Ihnen alles zeigen, wenn Sie es wünschen." Ich stand auf und holte mein Tagebuch. Natürlich zuerst das Stenogramm, denn ich konnte der Versuchung nicht widerstehen, den Professor ein wenig zappeln zu lassen. Freudig griff er dach und begann zu lesen, aber gleich wurde sein Gesicht lang. "Sie sind eine kluge Frau, Frau Mina. Leider kann ich nicht stenografieren. Sie werden es mir vorlesen müssen." Da war mein kleiner Scherz zu Ende und ich fand es gar nicht mehr lustig. Rasch nahm ich also die mit Maschine geschriebene Kopie und gab sie Van Helsing.
"Verzeihen Sie mir", sagte ich. "Ich konnte der Versuchung nicht widerstehen. Hier ist alles mit Maschine aufgeschrieben. Wenn Sie möchten, können Sie es jetzt lesen, während ich den Lunch anordne. Dann können Sie mich fragen und wir essen dabei." Van Helsing stimmte zu und ließ sich gemütlich in einem Sessel nieder. Ich ging hinaus und sah nach dem Lunch, aber hauptsächlich wollte ich ihn nicht stören. Als ich wieder in das Zimmer trat, ging Van Helsing erregt auf und ab. Er eilte auf mich zu und fasste mich bei den Händen.
"Oh, Frau Mina. Wie kann ich Ihnen für diesen Bericht danken? Er ist wie Sonnenschein und öffnet mir das Tor. Ach, Sie können es nicht verstehen, aber ich bin Ihnen so dankbar. Wenn ich je etwas für Sie oder die Ihrigen tun kann, lassen Sie es mich wissen. Ich werde tun, was in meiner Macht steht. Liebe Frau Mina, es gibt im Leben Licht und Schatten. Sie sind ein Licht! Ihr Leben wird gesegnet sein und Ihr Gatte hat es mit Ihnen gut getroffen." Ich wurde ein wenig rot. "Aber, Herr Van Helsing. Sie kennen mich doch gar nicht. Wie können Sie mich da so loben?"
"Natürlich kenne ich Sie! Ich bin alt und habe mein Leben lang Mann und Weib studiert. Das menschliche Gehirn ist mein Lebensstudium, alles was damit zusammenhängt und was daraus gefolgert wird. Ich durfte Ihre Briefe an Lucy und Ihr Tagebuch lesen. Ich weiß, dass Sie voller Güte sind. Sie und Ihr Gatte sind vornehme Naturen. Erzählen Sie mir von Ihrem Gatten. Geht es ihm gut? Ist das Fieber vollkommen vorbei? Ist er wieder stark und munter?" Van Helsing beugte sich interessiert zu mir hinüber. Ich berichtete von Jonathans Anfall in London, nach dem Begräbnis. "Ein Anfall? Ein neuerlicher Anfall von Nervenfieber?", fragte der Professor. "Nein, er glaubte jemanden zu erkennen, der eine schreckliche Erinnerung in ihm wachrief. Diese Erinnerung muss irgendwie mit dem Nervenfieber in Verbindung gestanden haben." Weiter konnte ich nicht sprechen, denn das Mitleid mit Jonathan und meine Sorge um ihn überfluteten mich. Ich warf mich weinend vor Van Helsing auf den Boden und flehte ihn an, er möge Jonathan helfen.
Van Helsing hob mich auf und setzte mich auf das Sofa. Er nahm meine Hände und redete sanft mit mir: "Mein Leben besteht nur aus Arbeit. Für Freundschaften hatte ich nie viel Zeit, aber seit mein Freund John mich hier geholt hat, weil er meiner Hilfe bedurfte, habe ich viele prächtige und liebenwerte Menschen kennen gelernt. Mehr denn je erkenne ich, dass ich älter werde und einsam bin. Sie sind eine gute Frau und ich bin froh, dass ich Ihnen einen Gefallen erweisen kann, denn das Leiden Ihres Gatten liegt im Bereich meiner Studien und Erfahrungen. Ich will tun, was ich kann, um Ihren Gatten wieder zum dem starken Menschen zu machen, der er einmal war. Lassen Sie uns nun essen. Sie sind sehr aufgeregt und ängstlich. Ihr Mann wäre nicht damit einverstanden, wenn Sie so bleich hier herum sitzen. Seinetwegen müssen Sie essen und lächeln. Wir werden auch nicht weiter über Fräulein Lucy sprechen. Es macht Sie nur traurig. Über Jonathans Leiden können wir sprechen, wenn Sie etwas gegessen haben."
Nach dem Lunch begaben wir uns in das Wohnzimmer. Van Helsing forderte mich auf, von Jonathan zu sprechen, aber ich kam mir wie eine Närrin vor mit den Geschichten aus dem Reisetagebuch. Van Helsing aber nahm mir meine Bedenken, in dem er erklärte, die Angelegenheit, die ihn zu mir geführt hätte, sei gleichermaßen seltsam. Er versicherte mir, dass er ohne Vorurteil und auf alles gefasst sei. Mir fiel eine Zentnerlast von der Seele und ich ging, um die Abschrift von Jonathans Reisetagebuch zu holen. Ich händigte ihm die Kopie aus und er versprach, morgen wieder zu kommen, sobald es seine Zeit erlaubte. Auch Jonathan wollte er morgen kennen lernen. Er verabschiedete sich freundlich und ging. Nun sitze ich und denke nach, ohne zu wissen, worüber.
Brief von Van Helsing an Frau Harker
25. September um 6 Uhr abends. Sehr verehrte Frau Mina, seien Sie unbesorgt! Ich habe das Tagebuch Ihres Gemahls gelesen und kann Ihnen versichern, dass jede Zeile der Wahrheit entspricht. Auch wenn es schrecklich sein mag, Sie und Ihren Mann kann es nun nicht mehr ängstigen. Ihr Mann ist ein vornehmer und starker Charakter. Niemand, der diese Mauer hinunter stieg um in das Zimmer zu gelangen - zweimal hinunter stieg - kann auf Dauer an einem Nervenleiden erkranken. Der Kopf und das Herz Ihres Gemahls sind in Ordnung. Vertrauen Sie mir. Ich bin darüber hinaus überglücklich, dass ich Sie beide heute noch sehen soll, ich habe so unendlich viel Neues erfahren, dass ich ganz verwirrt bin. Ich muss nachdenken! Ihr ergebenster Van Helsing
Brief von Frau Harker an Van Helsing
25. September um 6.30 Uhr abends. Lieber Professor, Sie nehmen eine Zentnerlast von meiner Seele. Aber was für entsetzliche Dinge hat Jonathan durchlitten, wenn seine Aufzeichnungen stimmen. Was für schreckliche Dinge gibt es auf dieser Welt. Und dieser grauenhafte Graf weilt nun tatsächlich in London! Ich habe Angst, daran zu denken. Jonathan aber wird erst spät heute Abend hier sein, so dass ich Sie frage, ob Sie nicht morgen mit uns das erste Frühstück gegen 8 Uhr einnehmen wollen, wenn Ihnen das nicht zu früh ist. Sie brauchen nicht zu antworten. Wenn ich nichts von Ihnen höre, erwarte ich Sie morgen zum Frühstück. Ihre ergebene und dankbare Freundin Mina Harker.
Jonathan Harkers Tagebuch
26. September. Die Zeit ist gekommen, dass ich meine Aufzeichnungen fortsetze, auch wenn ich nicht geglaubt habe, dass ich jemals wieder in dieses Tagebuch schreiben werde. Als ich gestern Abend heimkam, erzählte mir Mina nach dem Essen von Van Helsings Besuch. Sie hat ihm unser beider Tagebücher mitgegeben und der Professor hat bestätigt, dass alles was ich gesehen und notiert habe, wahr gewesen ist. Diese Nachricht hat einen neuen Menschen aus mir gemacht. Zweifelte ich vorher an meinen Sinnen und an meinem Verstand, sehe ich nun klar und fürchte mich auch nicht mehr, nicht einmal mehr vor dem Grafen. Wie er es beabsichtigt hat, ist er nach London gekommen. Er war es, den ich in der Stadt sah. Wie aber ist es zu dieser Verjüngung gekommen? Ich bin sicher, dass Van Helsing das Rätsel lösen kann, wenn er nur im Entferntesten der Beschreibung entspricht, die Mina von ihm gegeben hat. Gleich werde ich ihn in seinem Hotel abholen, während Mina sich noch ankleidet.
Die Begegnung mit Van Helsing war bemerkenswert. Als ich in sein Hotelzimmer trat, um ihn abzuholen, nahm er mich bei den Schultern und drehte mein Gesicht ins Licht. Er sah mich lange aufmerksam an und sagte dann: "Frau Mina hat erzählt, Sie wären schwer krank und hätten einen Nervenschock erlitten." Ich fand es bezaubernd, dass dieser alte Herr von meiner Frau als "Frau Mina" sprach. Ich lächelte also und antwortete: "Ich war krank und hatte einen Nervenschock. Sie aber, lieber Dr. Van Helsing haben mich bereits geheilt. Sie haben mir die Zweifel genommen, mit denen ich mich seit meiner Rückkehr aus Transsylvanien herumschlage. Sie haben mir mein Selbstvertrauen wieder gegeben. Alles was ich gesehen habe, ist wahr. Das weiß ich jetzt. Sie ahnen nicht, was es heißt, an allem zu zweifeln!"
Van Helsing lachte ein wenig. "Es wird mir eine Freude sein, noch mehr über Sie zu erfahren, wenn wir gemeinsam frühstücken. Und gestatten Sie mir, dass ich Ihre Frau als einen wahren Engel bezeichne. Sie ist eine gute Frau, eine, die von Gott gesandt ist. Sie ist selbstlos, treu, zärtlich und edel. Ich kenne Sie schon aus Ihren Briefen und Ihre wahre Persönlichkeit kenne ich nun seit heute Nacht. Wollen Sie mir Ihre Hand geben? Dann sind wir Freunde ein Leben lang." Tagelang hätte ich ihm zuhören können, wie er meine Mina lobte und so drückten wir uns die Hände und waren ganz still.
Nach einer Weile fuhr Van Helsing fort: "Wir haben eine große Aufgabe vor uns und ich bitte Sie jetzt gleich mir mitzuteilen, ob ich auf Ihre Hilfe rechnen kann. Sie können viel zur Lösung des Problems beitragen. Was ging Ihrer Reise nach Transsylvanien voraus? Diese Auskunft wird mir zunächst reichen, wenn ich auch später noch um andere Mithilfe bitten werde." "Betrifft das, was Sie vorhaben, den Grafen?", fragte ich den Professor. Er nickte feierlich: "Es betrifft ihn." "Dann gehöre ich Ihnen, mit ganzem Herzen und allem Verstand. Ich werde Ihnen ein Bündel Papiere geben, das Sie auf Ihrer kommenden Reise studieren können." Nach dem Frühstück begleitete ich ihn zum Bahnhof. Wir verabschiedeten uns freundschaftlich und Van Helsing fragte: "Wenn ich Sie darum bitte, werden Sie dann zu mir in die Stadt kommen und auch Ihre Gattin mitbringen?" Ich versprach ihm, dass wir zu ihm kommen würden, wann immer er es wünsche.
Ich gab ihm die Morgenzeitung und die Nachrichten vom Abend zuvor- Van Helsing stieg ein und wir plauderten am Fenster noch eine Weile und warteten auf die Abfahrt des Zuges. Van Helsing sah die Zeitungen flüchtig durch und sein Blick blieb an einer Schlagzeile der "Westminster Gazette" hängen. Er erbleichte und flüsterte: "Oh, mein Gott. So früh schon? So früh?" Er hatte mich völlig vergessen und ich kam ihm erst wieder zu Bewusstsein, als der Zug mit einem leisen Rucken anfuhr. Er fasste sich, drückte meine Hand ein letztes Mal und trug mir auf, Mina noch einmal herzlich zu grüßen. Dann war er fort.
Dr. Sewards Tagebuch
26. September. Nichts ist in diesem Leben sicher, nicht einmal das Ende. Noch vor einer Woche schrieb ich FINIS unter meine Aufzeichnungen und nun sitze ich erneut hier und fahre in meiner Chronik fort. Ich hatte bis heute Nachmittag keine Gelegenheit darüber nachzudenken, was geschehen ist. Renfield ist wieder beim Fliegenfang und vernünftiger als bisher. Dass er wieder zum Spinnenfang übergeht, machte er mir kein Kopfzerbrechen. Aus Arthur Brief entnehme ich, dass er sich auf dem Wege der Besserung befindet und daran hat auch sicher Quincey Morris seinen Anteil, der Arthur mit seinem Humor aufzuheitern versteht. Und ich selbst ging mit Enthusiasmus an die Arbeit, so dass ich glaubte sagen zu können, die Wunden, die das Schicksal der armen Lucy bei uns allen geschlagen hat, beginnen zu vernarben.
Nun aber ist Van Helsing mit einer Meldung der "Westminster Gazette" hier angekommen und die Wunden reißen wieder auf. In der Meldung ist die Rede von vermissten Kindern, die, wenn sie wieder aufgefunden wurden, punktförmige Wunden an der Kehle aufwiesen. Als ich die Meldung las, schoss mir ein Gedanke durch den Kopf. Ich sah Van Helsing an. "Es ist ähnlich wie bei Lucy." Van Helsing nickte. "Und was halten Sie davon?" "Es ist möglich, dass alle diese Fälle auf die gleiche Ursache zurückzuführen sind. Was Lucy verletzt hat, hat auch die Kleinen verletzt." Van Helsing erwiderte nicht ganz klar: "Das trifft nur indirekt, nicht aber direkt zu." Ich hob die Schultern und sah in fragend an.
"John", sagte Van Helsing gütig, "wollen Sie mir weismachen, dass Sie keine Ahnung haben, woran Lucy gestorben ist? Ich habe so viele Andeutungen gemacht und Sie waren schließlich dabei!" "Nun, Professor, sie starb an nervöser Erschöpfung infolge großen Blutverlusts oder Blutzersetzung." "Das ist richtig, John, aber was ist an dem Blutverlust schuld gewesen?" Wieder hob ich fragend die Schultern. "Sie sind ein heller Kopf, John. Aber trotz Ihres scharfen Verstandes stecken Sie zu tief in Vorurteilen. Was nicht sein kann und nicht sein darf, das ist auch nicht, richtig? Ihre Augen und Ohren nehmen nur das wahr, was innerhalb Ihres täglichen Lebens liegt. Aber es gibt mehr Dinge, John. Dinge, die wir nicht verstehen, alte und neue Dinge, John. Unsere Wissenschaft ist bestrebt, alles zu erklären. Wenn sie es nicht kann, dann behauptet sie, es gäbe nichts zu erklären. Wir sehen jeden Tag neue Strömungen, die in Wahrheit alt sind und nur vorgeben, neu zu sein. Glauben Sie an körperliche Verwandlungen? Oder an die Materialisation? Nein? Oder an den Astralkörper? Das Gedankenlesen? An Hypnotismus?"
"Daran schon", warf ich ein. "Charcot hat das zur Genüge bewiesen." Van Helsing lächelte. "Dann sind Sie damit zufrieden? So sind Sie also im Stande, den Gedanken des großen Charcot zu folgen und in der tiefsten Seele derer zu lesen, die unter seinem Einfluss stehen? Schade, dass Charcot nicht mehr lebt. Ich muss annehmen, dass Sie ihn einfach als Tatsache hingenommen haben, ohne zu sehen, dass zwischen der Prämisse und der Schlussfolgerung eine beachtliche Lücke klafft. Und wenn Sie an den Hypnotismus glauben, wie können Sie dann die Gedankenübertragung verleugnen? Es gibt überall Geheimnisse, John. Methusalem wurde 900 Jahre alt. Warum konnte die liebe Lucy mit dem Blut von vier starken Männern nicht einen Tag länger leben? Wir hätten sie retten können, wenn sie nur einen Tag länger gelebt hätte. Kennen Sie alle Geheimnisse von Tod und Leben? Können Sie erklären, warum einige Spinnen frühzeitig und klein sterben, während eine Spinne im Turm einer spanischen Kirche Jahrhunderte lang lebte? Sie war schließlich so groß, dass sie sich an ihrem Faden herab lassen und das Öl der ewigen Lichter austrinken konnte. Warum also gibt es in den Pampas und anderswo Fledermäuse, die in der Nacht über Pferde und Kühe herfallen und ihnen das Blut aussaugen? Bis zum letzten Tropfen? Diese Fledermäuse gibt es auch auf einigen Inseln im Ozean, wo sie am Tag wie Früchte an den Bäumen hängen und in der Nacht, wenn Matrosen auf den Schiffen wegen der Hitze an Deck schlafen, herunter flattern. Am Morgen findet man dann tote Männer, weiß und blutleer wie Fräulein Lucy."
Ich erschrak. "Professor! Sie wollen nicht andeuten, dass eine solche Fledermaus Lucy das Leben nahm und dass es solche Kreaturen im heutigen London gibt?" Van Helsing gebot mir Stillschweigen und fuhr fort: "Können Sie mir sagen, warum es zu allen Zeiten und überall auf der Welt den Glauben gab, dass Einzelne immer weiterleben, wenn es ihnen gegeben ist? Dass es Männer und Frauen gibt, die nicht sterben können? Wir wissen von den Kröten, die Tausende Jahre eingeschlossen in ihren Höhlungen lebten. Können Sie mir das erklären?" Ich hatte das unbestimmte Gefühl, dass der Professor mir eine Lektion erteilen wollte, wie früher in seinem Studierzimmer. "Herr Professor, sagen Sie mir die Thesis, so kann ich Ihren Ausführungen eher folgen. Im Moment fühle ich mich wie einer, der sich bei Nebel im Sumpf verlaufen hat."
"Die Thesis ist: Sie sollen glauben." "An was soll ich glauben, Professor?" "An Dinge, an die Sie nicht glauben. Haben Sie keine Vorurteile. Glauben Sie nicht, dass wir alle Weisheit der Welt besitzen." "Wenn ich Sie richtig verstanden habe, wünschen Sie also, dass die Aufmerksamkeit meines Verstandes nicht durch ein vorgefasstes Urteil in Bezug auf einige seltsame Vorkommnisse beschränkt sei?" "John, Sie sind noch immer mein begabtester Schüler. So haben Sie auch schon den ersten Schritt zum Verständnis getan. Sie glauben also auch, dass die Wunden an den Kehlen der Kinder von demselben Wesen herrühren wie die Wunden an Lucys Hals?"
Ich nickte. Van Helsing stand auf und sah mich ernst an. "Da liegen Sie falsch, John. Ich wünschte, es wäre so. Aber es ist schlimmer. Viel schlimmer." Ich rief: "Um Gottes Willen, Professor. Was soll das heißen?" "Nun, John, es war Lucy, die diese Wunden hervorbrachte!"