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狄更斯小说:小杜丽二-Siebenundzwanzigstes Kapitel.

时间:2017-11-27来源:互联网 字体:[ | | ]  进入德语论坛
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Der Zögling des Marschallgefängnisses.
Es war ein sonniger Tag, und das Marschallgefängnis lag in den heißen Mittagssonnenstrahlen ungewöhnlich still da. Arthur Clennam sank in einen einsamen Lehnstuhl, der so abgeschabt war wie die Schuldner in dem Gefängnis, und hing seinen Gedanken nach.
In dem unnatürlichen Frieden, der in dem Bewußtsein lag, die drohende Verhaftung überstanden zu haben, – dem ersten Wechsel der Gefühle, die das Gefängnis meist herbeiführt, und von welchem gefährlichen Ruhepunkt so manche in die Tiefen der Erniedrigung und der Schmach auf so manche Art gesunken waren, – konnte er an einige Episoden seines Lebens in einer Weise denken, als wenn er von ihnen in ein anderes Leben entrückt wäre. Wenn man erwägt, wo er war, welches Interesse ihn zuerst hierhergeführt, als es ihm noch freistand, wegzubleiben, wenn man an das sanfte Wesen denkt, das so untrennbar von Mauern und Gittern ringsum war wie von unfaßbaren Erinnerungen seines späteren Lebens, die weder Mauer noch Gitter einkerkern konnte, so war es nicht merkwürdig, daß ihm alles, worauf seine Erinnerung fiel, Klein-Dorrit zurückrief. Ihm war es aber dennoch merkwürdig; nicht die Tatsache selbst; sondern weil sie ihn daran mahnte, welch großen Einfluß das liebe kleine Geschöpf auf seine besseren Entschlüsse gehabt hatte.
Niemand von uns weiß, welchen Menschen oder Dingen wir in dieser Weise verschuldet sind, bis eine auffällige Stockung in dem rasch sich drehenden Rade des Lebens uns dies Bewußtsein gibt. Krankheiten, Kummer, der Verlust teurer Geliebten führen es uns zu Gemüt, und es ist eine der häufigsten nützlichen Folgen des Unglücks. Dies Gefühl überkam Clennam in seinem Unglück und machte einen tiefen und rührenden Eindruck auf ihn. »Als ich mich zuerst sammelte«, dachte er, »und meinen müden Augen etwas wie ein Ziel setzte, wen sah ich vor mir, mühevoll arbeitend, um eines guten Zweckes willen, ohne Entmutigung, und ohne der gemeinen Hindernisse zu achten, die eine Armee von Helden und Heldinnen entmutigt hätten? – Ein schwaches Mädchen! Als ich meine schlecht gewählte Liebe zu bekämpfen und gegen den Mann, der glücklicher als ich war, edel zu sein strebte, obgleich er es vielleicht nie erfahren oder nur mit einem freundlichen Worte danken würde, wessen Geduld, Selbstverleugnung, Selbstbezwingung, Barmherzigkeit und edle Großmut des Herzens beobachtete ich da? Eben dieses armen Mädchens! Wenn ich, ein Mann mit den Vorteilen und Mitteln und Kräften eines Mannes, die geheime Stimme meines Herzens mißachtet hätte, daß, wenn mein Vater gefehlt, es meine erste Pflicht sei, diesen Fehler zu verdecken und gutzumachen, – welche jugendliche Gestalt, die, ihre zarten Füße beinahe entblößt, durch die feuchten Straßen ging, mit ihren schwachen Händen immer arbeitete, ihren schwachen Körper vor der Rauheit des Wetters kaum geschützt hätte, wäre mir erschienen und hätte mich beschämt? Klein-Dorrit.« So dachte er in einem fort, solange er allein in dem abgeschabten Stuhle saß. Immer Klein-Dorrit. Bis es ihm schien, als wenn er jetzt den Lohn fände, daß er sie von sich gelassen und geduldet hätte, daß etwas zwischen ihn und seine Erinnerung an ihre Tugenden träte.
Seine Tür war offen, und der Kopf des älteren Chivery sah ein wenig herein, ohne daß er gerade ihm zugewandt gewesen wäre.
»Ich bin abgelöst, Mr. Clennam, und gehe weg. Kann ich etwas für Sie tun?«
»Vielen Dank. Nein.«
»Sie werden entschuldigen, daß ich die Tür aufgemacht habe, aber ich konnte mich nicht anders bemerklich machen«, sagte Mr. Chivery.
»Haben Sie geklopft?«
»Ein halbes dutzendmal.«
Clennam stand auf und sah, daß das Gefängnis von seinem Mittagsschläfchen erwacht war, daß die Bewohner sich auf dem schattigen Hofe umhertrieben und daß es schon spät am Nachmittag war. Er hatte stundenlang dagesessen und vor sich hingebrütet.
»Ihre Sachen sind angekommen«, sagte Mr. Chivery, »und mein Sohn wird sie herausbringen. Ich würde sie schon heraufgeschickt haben, aber er wünschte durchaus, sie selbst herauszubringen. Wahrhaftig, er ließ sich das nicht nehmen, deshalb konnte ich sie nicht heraufschicken. Mr. Clennam, dürft' ich ein Wort mit Ihnen sprechen?«
»Bitte, treten Sie ein«, sagte Arthur; denn von Mr. Chiverys Kopf war bislang nur ein kleines Stück zu sehen, und Mr. Chivery hatte ihm bloß ein Ohr zugewandt statt beide Augen. Das war angeborenes Zartgefühl bei Mr. Chivery – echte Höflichkeit; obgleich sein Äußeres sehr viel vom Schließer hatte und nicht das mindeste von einem Gentleman.
»Ich danke Ihnen, Sir«, sagte Mr. Chivery, ohne hereinzukommen. »Mr. Clennam, nehmen Sie es nicht übel (wenn Sie so gut sein wollen), falls Sie ihn etwas kurios finden, mein Sohn hat ein Herz, und meines Sohnes Herz ist auf dem rechten Fleck. Ich und seine Mutter wissen, wo es zu finden ist, und wir finden's am rechten Platz.«
Nach dieser geheimnisvollen Rede zog Mr. Chivery sein Ohr zurück und schloß die Tür. Er mochte ungefähr zehn Minuten weggegangen sein, als sein Sohn ihm folgte.
»Hier ist Ihr Mantelsack«, sagte er zu Arthur, indem er ihn sorgfältig zu Boden setzte.
»Das ist sehr freundlich von Ihnen. Es beschämt mich, daß Sie sich so viel Mühe machen.«
Er war fort, ehe Clennam dies gesagt; kehrte jedoch bald wieder zurück, indem er genau wie zuvor sagte: »Hier ist Ihr schwarzes Kistchen«, das er ebenfalls sorgfältig hinstellte.
»Ich erkenne diese Aufmerksamkeit mit großem Dank an. Ich hoffe, wir können uns jetzt die Hand schütteln, Mr. John.«
Der junge John jedoch trat zurück, indem er sein rechtes Handgelenk in einer Höhlung drehte, die er mit dem linken Daumen und Mittelfinger bildete, und dann wie zuvor sagte: »Ich weiß nicht, ob ich kann. Nein; ich sehe, daß ich nicht kann!« Er sah darauf den Gefangenen mit einem ernsten Blick an, während seine Empfindung sich in einem Grade steigerte, daß sie beinahe in Mitleid überging.
»Warum sind Sie ungehalten auf mich«, sagte Mr. Clennam, »und doch so bereit, mir diese freundlichen Dienste zu erzeigen? Es muß ein Mißverständnis zwischen uns obwalten. Wenn ich irgendwie dazu Veranlassung gegeben haben sollte, so würde mir das sehr leid tun.«
»Kein Mißverständnis, Sir«, sagte John, indem er das Handgelenk in der Höhlung vor- und zurückbewegte, obgleich sie sehr eng war. »Kein Mißverständnis, Sir, waltet in dem Gefühle ob, mit dem meine Augen Sie im gegenwärtigen Moment betrachten. Wenn ich überhaupt mich Ihnen gleichstellen könnte, Mr. Clennam – was ich nicht kann; und wenn nicht ein Druck auf Ihnen lastete – was im Augenblick der Fall ist; und wenn es nicht gegen alle Regeln des Marschallgefängnisses wäre – was es doch ist; – so wären meine Gefühle derart, daß sie mich eher als zu allem andern dazu antreiben würden, auf der Stelle die Sache durch Boxen mit Ihnen abzumachen.«
Arthur sah ihn einen Augenblick erstaunt und etwas ungehalten an. »Nun, nun!« sagte er. »Ein Mißverständnis, ein Mißverständnis!« Er wandte sich weg und setzte sich mit einem schweren Seufzer wieder in den abgeschabten Stuhl.
Der junge John folgte ihm mit den Blicken und rief nach einer kurzen Pause: »Ich bitte um Vergebung!«
»Sie ist Ihnen gern gewährt«, sagte Clennam, indem er mit seiner Hand winkte, ohne sein gesunkenes Haupt zu erheben. »Sagen Sie nichts mehr. Ich bin dessen nicht würdig.«
»Diese Möbel, Sir«, sagte der junge John mit dem Ton zarter und freundlicher Erklärung, »gehören mir. Ich habe die Gewohnheit, sie an solche auszuleihen, die das Zimmer bewohnen und keine eigenen Möbel haben. Es ist nicht viel, aber es steht zu Ihren Diensten. Umsonst, meine ich. Ich könnte mir keine andren Bedingungen denken, unter denen ich sie Ihnen liehe. Es wird mich freuen, wenn Sie die Sachen umsonst benutzen wollen.«
Arthur erhob seinen Kopf wieder, um ihm zu danken und zu sagen, er könne diese Güte nicht annehmen. John drehte noch immer sein Handgelenk und war noch so unschlüssig wie früher.
»Was ist denn zwischen uns?« sagte Arthur.
»Ich kann es nicht nennen, Sir«, versetzte der junge John, plötzlich laut und scharf sprechend. »Nichts ist zwischen uns.«
Arthur sah ihn wieder an, aber sein Blick bat vergeblich um eine Erklärung dieses Benehmens. Kurz darauf wandte Arthur seinen Kopf wieder weg. Der junge John sagte alsbald mit der größten Weichheit:
»Der kleine runde Tisch, Sir, der neben Ihnen steht, gehörte – Sie wissen, wem – ich brauche ihn nicht zu nennen – er ist tot, ein echter Gentleman. Ich kaufte ihn von einem Menschen, dem er ihn schenkte und der nach ihm dieses Zimmer bewohnte. Aber dieser Mensch stand ihm in keiner Weise gleich. Die wenigsten Menschen würden imstande sein, sich auf seine Höhe zu schwingen.«
Arthur zog den kleinen Tisch näher an sich, legte seinen Arm darauf und blieb in dieser Stellung.
»Vielleicht wissen Sie nicht, Sir«, sagte der junge John, »daß ich ihm beschwerlich fiel, als er hier in London war. Er schien es wenigstens für eine Zudringlichkeit zu halten, obgleich er so freundlich war, mich sitzen zu heißen und nach dem Vater und allen alten Freunden zu fragen. Selbst nach seinen geringsten Bekannten. Er erschien mir sehr verändert, ich sagte es, als ich nach Hause kam. Ich fragte ihn, ob Miß Amy wohl sei – –«
»Und er sagte ja?«
»Ich hätte gedacht, das wüßten Sie, ohne diese Frage an mich zu richten«, versetzte der junge John, während er ein Gesicht machte, als verschluckte er eine große unsichtbare Pille. »Da Sie jedoch diese Frage an mich richten, schmerzt es mich, daß ich sie nicht beantworten kann. Aber offen gesagt, er sah die Frage nach ihrem Befinden als eine Anmaßung an und sagte: ›Was das mich angehet?‹ Da wurde ich erst recht gewahr, daß ich zudringlich gewesen; vorher hatte ich es nur befürchtet. Er sprach jedoch später sehr gütig; sehr gütig.«
Sie schwiegen beide mehrere Minuten lang; der junge John unterbrach die Pause nur einmal mit den Worten: »Er sprach und handelte wirklich sehr gütig.«
Später war es wieder der junge John, der die Pause mit der Frage unterbrach:
»Wenn es nicht zudringlich erscheinen sollte, wie lange beabsichtigen Sie ohne Essen und Trinken zu bleiben?«
»Ich habe bis jetzt noch in keiner Richtung ein Bedürfnis gefühlt«, versetzte Clennam. »Ich habe keinen Appetit.«
»Um so mehr Grund, Sir, daß Sie etwas zu sich nehmen sollten«, drängte der junge John. »Wenn Sie so Stunde um Stunde dasitzen und keine Erfrischung zu sich nehmen, weil Sie keinen Appetit haben, nun so sollen Sie eben eine Erfrischung zu sich nehmen ohne Appetit. Ich werde auf meinem Zimmer Tee trinken. Wenn es nicht zudringlich klingt, bitte, so kommen Sie mit mir und trinken Sie eine Tasse bei mir. Oder ich könnte das Teebrett auch in zwei Minuten herüberbringen.«
Da Arthur fühlte, daß der junge John sich diese Mühe machen würde, wenn er es ausschlüge, und da er zu gleicher Zeit zu zeigen den Wunsch hegte, daß er des ältern Mr. Chiverys Bitte und des jüngeren Chiverys Entschuldigung alle Beachtung schenke – so stand er auf und drückte seine Bereitwilligkeit aus, eine Tasse Tee in Mr. Johns Zimmer zu trinken. Der junge John schloß statt seiner die Tür, ließ ihm den Schlüssel mit großer Gewandtheit in die Tasche gleiten und führte ihn nach seiner Wohnung.
Diese befand sich im Giebel des Hauses, zunächst dem Torweg. Es war dasselbe Zimmer, nach dem Clennam an dem Tage geeilt war, an dem die reich gewordene Familie das Gefängnis für immer verließ, und wo er sie ohnmächtig vom Boden aufgehoben. Er ahnte, wohin sie gingen, sobald ihr Fuß die Treppe berührte. Das Zimmer hatte sich soweit geändert, daß es jetzt tapeziert und neu gemalt, auch weit komfortabler eingerichtet war; aber er konnte es sich genau erinnern, wie er es mit einem flüchtigen Blick gesehen, als er sie vom Boden aufhob und in den Wagen hinabtrug.
Der junge John sah ihn unverwandt an und nagte dabei an seinen Fingern.
»Ich sehe, Sie erinnern sich des Zimmers, Mr. Clennam?«
»Ich erinnere mich dessen ganz genau, Gott segne sie!«
Den Tee ganz vergessend, fuhr der junge John fort, an den Fingern zu nagen und seinen Gast zu betrachten, solange sich dieser in dem Zimmer umsah. Endlich aber griff er doch nach der Teekanne, scharrte aus einer Büchse rasch eine Portion zusammen, die er hineinwarf, und ging nach der gemeinschaftlichen Küche, um die Kanne mit heißem Wasser zu füllen.
Das Zimmer sprach trotz der veränderten Umstände, unter denen er das elende Marschallgefängnis betrat, so beredt zu ihm; es sprach so traurig von ihr und von seinem Verlust der Kleinen, daß es ihm schwer gewesen wäre, sich dem rührenden Eindruck zu entziehen, selbst wenn er nicht allein gewesen wäre. Allein wollte er es nicht versuchen. Er legte seine Hand auf die gefühllose Wand, so zärtlich, als wenn sie es selbst gewesen, die er berührt, und sprach ihren Namen mit leiser Stimme aus. Er stand an dem Fenster und sah über die Gefängnismauer mit ihrer abscheulichen Spitzenkante hin und flüsterte einen Segen durch die Sonnennebel nach dem fernen Lande hin, wo sie reich und glücklich war.
Der junge John war einige Zeit abwesend, und man sah, als er zurückkam, daß er außerhalb der Gefängnismauern gewesen, da er frische Butter in einem Kohlblatt, einige dünne Schnitten gekochten Schinken in einem zweiten Kohlblatt und ein kleines Körbchen mit Wasserkresse und Salatkräutern brachte. Als dies zu seiner Zufriedenheit auf dem Tische arrangiert war, setzten sie sich zum Tee nieder.
Clennam suchte der Einladung Ehre anzutun, aber es wollte ihm nicht gelingen. Der Schinken machte ihn krank, und das Brot schien sich in seinem Munde in Sand zu verwandeln. Er vermochte nicht mehr über sich, als eine Tasse Tee zu trinken.
»Versuchen Sie doch ein wenig Grünes«, sagte der junge John, indem er ihm das Körbchen darbot.
Er nahm etwas Wasserkresse und versuchte es aufs neue; aber das Brot verwandelte sich in noch schwereren Sand denn zuvor, und der Schinken (obwohl er an und für sich ganz gut war) schien einen schwachen Samum von Schinken durch das ganze Marschallgefängnis zu blasen.
»Versuchen Sie noch etwas mehr Grünes, Sir«, sagte der junge John und bot ihm wieder das Körbchen.
Dies machte so sehr den Eindruck, als wenn man grüne Kräuter in den Käfig eines traurigen, einsamen Vogels schöbe, und John hatte so offenbar das kleine Körbchen als eine Handvoll Erfrischung, die bei den alten, heißen Pflaster- und Mauersteinen des Gefängnisses nötig war, gekauft, daß Clennam mit einem Lächeln sagte: »Es war sehr freundlich von Ihnen, daß Sie auf den Gedanken kamen, dies zwischen die Drahtstäbe zu senken; aber ich kann heute nicht mal dies hinunterbringen.«
Als wenn die Schwierigkeit ansteckend wäre, schob auch der junge John bald seinen Teller weg und begann das Kohlblatt, in dem der Schinken gewesen war, aufzurollen. Als er es mehrmals zusammengerollt, daß es ganz klein zwischen seinen Händen geworden, begann er es platt zu drücken und sah dabei Clennam aufmerksam an.
»Ich wundre mich«, sagte er endlich, indem er sein grünes Bällchen mit einiger Kraft zusammendrückte, »daß, wenn Sie es nicht um Ihrer selbst willen für der Mühe wert halten, Sorge für sich zu tragen, Sie es nicht um einer andern Person willen tun.«
»Wahrhaftig«, versetzte Arthur mit einem Seufzer und einem Lächeln, »ich wüßte nicht, um wessen willen.«
»Mr. Clennam«, sagte John warm, »ich bin erstaunt, daß ein Gentleman, der solcher Offenheit fähig ist wie Sie, der niedrigen Handlung fähig sein soll, mir eine solche Antwort zu geben. Mr. Clennam, ich bin erstaunt, daß ein Gentleman, der ein Herz hat, die Herzlosigkeit besitzen soll, das meine in solcher Weise zu behandeln. Ich bin darüber erstaunt, Sir. Wirklich und wahrhaftig, ich bin erstaunt.«
Da er aufgestanden war, um seinen Schlußworten den rechten Nachdruck zu verleihen, setzte sich der junge John, nachdem er gesprochen hatte, wieder, und begann sein grünes Bällchen auf seinem rechten Bein zu rollen, indem er dabei kein Auge von Clennam abwandte, sondern ihn mit dem Blicke vorwurfsvoller Entrüstung ansah.
»Ich war mit der Sache fertig geworden«, sagte John, »Ich hatte sie bekämpft, da ich fühlte, daß sie bekämpft werden müsse, und war zu dem Entschluß gekommen, nicht mehr daran zu denken. Ich würde gar nicht mehr daran gedacht haben, hoffe ich, wenn man Sie nicht in dies Gefängnis gebracht, und dies in einer unglücklichen Stunde für mich, heute. (In seiner Aufregung brauchte der junge John die wirkungsvolle Satzkonstruktion seiner Mutter.) Als Sie heute zuerst in das Pförtnerstübchen traten, mehr wie ein gefangener Giftbaum denn wie ein Privatverbrecher, strömten so viele Gefühle auf mich ein, daß im ersten Augenblick alles von ihnen weggeschwemmt wurde und ich mich wie in einem Wirbel drehte. Ich rettete mich aus demselben. Ich kämpfte und rettete mich aus demselben. Wenn es das letzte Wort wäre, das ich zu sprechen hätte, gegen diesen Wirbel kämpfte ich mit der äußersten Kraft an und kam heraus. Ich dachte, wenn ich unzart gewesen, sei eine Entschuldigung nötig, und eine solche Entschuldigung machte ich. Und nun, da ich so lebhaft den Wunsch habe, zu zeigen, daß ich ein beinahe heiliges Gefühl hege, das mir über alle andern geht, – jetzt machen Sie Winkelzüge, während ich die Sache so zart andeute, und werfen mich zurück. »Denn Sie werden nicht so falsch sein«, sagte der junge John, »zu leugnen, daß Sie Winkelzüge machen und mich auf mich zurückwerfen.« Arthur sah ihn höchlich erstaunt und verlegen an; er konnte nicht mehr hervorbringen als: »Was soll's damit? Was meinen Sie, John?« Aber John, der in jener Gemütsverfassung war, in der einer gewissen Klasse von Menschen nichts unmöglicher scheinen würde, als eine Antwort zu geben, fuhr blindlings fort.
»Ich hatte nie«, erklärte John, »nein, ich hatte niemals die Kühnheit, zu denken, das weiß ich gewiß, die Sache könne anders denn verloren sein. Ich hatte nie, nein, warum sollte ich sagen, ich hatte nie, wenn ich sie jemals gehabt, ich hatte nie die Hoffnung, daß es möglich wäre, ich könnte so glücklich sein, nach den Worten, die zwischen uns gewechselt wurden, selbst nicht, wenn keine so unübersteiglichen Hindernisse sich mir entgegengetürmt hätten. Aber ist das ein Grund, weshalb ich nicht mehr daran denken sollte, weshalb ich mich nicht erinnern dürfte, weshalb es für mich keine geheiligten Orte oder dergleichen geben sollte?«
»Was können Sie nur mit alledem meinen?« rief Arthur.
»Man kann ganz gut darauf herumtreten, Sir«, fuhr John fort, indem er eine Prärie von wilden Worten zum besten gab, »wenn jemand es über sich vermag, dieser Handlung sich schuldig zu machen. Man kann die Sache mit Füßen treten, aber sie bleibt doch, was sie ist. Wohl möglich, daß man sie nicht mit Füßen treten könnte, wenn sie nicht existierte. Aber das macht es nicht fein, das macht es nicht ehrenhaft, das rechtfertigt es nicht, einen Menschen wieder in den Strudel zurückzuschleudern, nachdem er sich herausgearbeitet hat wie ein Schmetterling. Die Welt mag über einen Schließer spötteln, aber er ist ein Mann – wenn er nicht eine Frau ist, was er wohl unter weiblichen Verbrechern sein wird.«
So lächerlich auch das Unzusammenhängende seiner Rede war, so lag doch etwas so Treuherziges in dem einfachen, sentimentalen Charakter des jungen John, und ein Gefühl, an einem zarten Punkt tief verletzt worden zu sein, in seinem glühenden Gesicht und in der Erregtheit seines Tones und Wesens, daß Arthur hätte grausam sein müssen, wenn er es hätte nicht beachten wollen. Er richtete seine Gedanken auf den Ausgangspunkt dieser ihm unbewußten Beleidigung, während der junge John, nachdem er sein grünes Bällchen hübsch rund gerollt hatte, es in drei Stücke schnitt und sorgfältig auf einen Teller legte, als wenn es eine besondere Delikatesse wäre.
»Es dünkt mich nicht unwahrscheinlich«, sagte Arthur, als er das Gespräch bis auf die Wasserkresse zurückverfolgt und dann aufs neue begann, »daß Sie auf Miß Dorrit angespielt haben?«
»Allerdings, Sir«, versetzte John Chivery.
»Ich verstehe das nicht. Ich hoffe, ich bin nicht so unglücklich, Sie glauben zu machen, ich wolle Sie wieder beleidigen, denn ich hatte nicht die Absicht, Sie zu beleidigen, wenn ich sage, ich verstehe Sie nicht.«
»Sir«, sagte der junge John, »wollen Sie so perfid sein, zu leugnen, daß Sie wissen und lange schon gewußt haben, daß ich für Miß Dorrit, nennen Sie es nicht Anmaßung der Liebe, sondern Verehrung und Hingebung fühle?«
»Wahrhaftig, John, es ist keine Perfidie, wenn ich es weiß; warum Sie solche bei mir voraussetzen, frage ich mich vergeblich. Hörten Sie je von Mrs. Chivery, Ihrer Mutter, daß ich sie eines Tages besuchte?«
»Nein, Sir«, versetzte John kurz. »Habe nie davon gehört.«
»Aber ich war bei ihr. Können Sie sich denken, weshalb?«
»Nein, Sir«, antwortete John kurz. »Ich kann mir nicht denken, warum.«
»So will ich es Ihnen sagen. Ich wünschte, zu Miß Dorrits Glück etwas beizutragen; und wenn ich glaubte, Miß Dorrit erwidere Ihre Liebe –«
Der arme John Chivery wurde hochrot bis hinter die Ohren. »Miß Dorrit erwiderte sie nicht. Ich wünsche ehrenhaft und wahr zu sein, soweit mir dies in meiner bescheidenen Stellung möglich ist, und ich würde es verschmähen, auch nur einen Augenblick zu behaupten, daß sie es je getan oder mich je glauben ließ, sie tue es; nein, nicht einmal, daß es je bei ruhigem Verstand zu erwarten war, sie werde oder könne es tun. Sie stand zu allen Zeiten und in jeder Beziehung weit über mir. Gerade wie ihre vornehme Familie«, fügte John hinzu.
Sein ritterliches Gefühl gegenüber von allem, was zu ihr gehörte, machte ihn, trotz seiner kleinen Gestalt und seiner ziemlich schwachen Beine und seines sehr schwachen Haares und seines poetischen Temperaments, doch so bedeutend, daß selbst ein Goliath an seiner Stelle weniger Respekt bei Arthur gefunden hätte.
»Sie sprechen wie ein Mann, mein lieber John«, sagte er mit herzlicher Bewunderung.
»Nun, Sir«, versetzte John, mit der Hand über die Augen fahrend, »dann wünsche ich, Sie würden dasselbe tun.«
Er war rasch mit dieser unerwarteten Antwort zur Hand, und Arthur sah ihn wieder mit einem staunenden Ausdruck des Gesichtes an.
»War das zu stark«, sagte John, indem er seine Hand über das Teebrett hinüberbot, »so nehme ich es zurück. Aber warum nicht, warum nicht? Wenn ich Ihnen sage, Mr. Clennam, sorgen Sie um einer andern Person willen für sich, warum soll ich nicht offenherzig sein, obgleich ich ein Schließer bin? Warum gab ich Ihnen das Zimmer, von dem ich wußte, daß es Ihnen das liebste sein würde? Warum brachte ich Ihre Sachen herauf? Nicht, daß ich sie schwer gefunden habe; ich sage das nicht in dieser Beziehung; weit entfernt. Warum habe ich mich seit diesem Morgen in solcher Weise um Sie gemüht? Wegen Ihrer eigenen Verdienste etwa? Nein. Sie mögen sehr groß sein; ich zweifle nicht daran; aber nicht auf Grund dieser. Die Verdienste eines andern Wesens fielen in die Wagschale und hatten für mich größeres Gewicht. Warum nicht offen sprechen?«
»Ehrlich und offen, John«, sagte Clennam, »Sie sind ein so guter Mensch, und ich habe eine so aufrichtige Achtung vor Ihrem Charakter, daß, wenn ich weniger, als es wirklich der Fall, die freundlichen Dienste, die Sie mir heute leisteten, dem Umstand zuzuschreiben schien, daß mich Miß Dorrit mit ihrer Freundschaft beehrt, – so gestehe ich dies als einen großen Fehler ein, und ich bitte um Vergebung.«
»Ah, warum nicht«, wiederholte John mit erneutem Hohn, »warum nicht offen sprechen?«
»Ich erkläre Ihnen«, versetzte Arthur, »daß ich Sie nicht verstehe. Betrachten Sie mich. Erwägen Sie die Sorgen, die mich niederdrücken. Ist es wahrscheinlich, daß ich zu den andern Vorwürfen, die ich mir machen muß, den fügen sollte, undankbar und verräterisch gegen Sie zu sein? Ich verstehe Sie nicht.«
Johns ungläubiges Gesicht bekam nach und nach den Ausdruck des Zweifels. Er stand auf, trat an das Fenster des Dachstubenzimmers, bat Arthur näher zu kommen und sah gedankenvoll zu ihm hin.
»Mr. Clennam, wollen Sie damit sagen, daß Sie es nicht wissen?«
»Was, John?«
»Himmel«, sagte John, indem er mit tiefem Atemholen an die Eisenspitzen auf der Mauer appellierte. »Er sagt: ›Was?‹«
Clennam sah nach den Eisenspitzen hin und dann John an; und sah die Eisenspitzen und dann John noch einmal an.
»Er sagt: Was! Und was noch mehr«, rief der junge John und betrachtete ihn in kläglicher Verlegenheit, »er scheint es sogar wirklich zu meinen! Sehen Sie dieses Fenster, Sir?«
»Natürlich sehe ich dieses Fenster.«
»Sehen Sie dieses Zimmer?«
»Nun, natürlich sehe ich dieses Zimmer.«
»Die gegenüberstehende Mauer und den Hof dort unten? Sie waren alle Zeugen davon, Tag für Tag, Nacht für Nacht, Woche für Woche, Monat für Monat. Denn wie oft habe ich Miß Dorrit hier gesehen, während sie mich nicht gesehen hat!«
»Zeugen, von was?« sagte Clennam.
»Von Miß Dorrits Liebe.«
»Zu wem?«
»Zu Ihnen!« sagte John. Und berührte mit dem Rücken seiner Hand Clennams Brust und trat zu seinem Stuhl zurück und setzte sich mit blassem Gesicht hinein, indem er die Arme übereinanderschlug und ihn kopfschüttelnd ansah.
Wenn er Clennam einen derben Schlag versetzt hätte, statt ihn so leicht zu berühren, so hätte dieser nicht mehr erschüttert sein können. Er stand erstaunt da, die Augen auf John geheftet und den Mund offen, während seine Lippen die Worte: ›Zu mir‹ zu bilden schienen, ohne sie jedoch laut auszusprechen; seine Hände hingen an seiner Seite herab, und seine ganze Erscheinung war die eines Mannes, der aus dem Schlaf erwacht ist und die bestürzende Nachricht, die man ihm gebracht hat, nicht begreifen kann.
»Zu mir!« sagte er endlich laut.
»Ach!« stöhnte der junge John. »Zu Ihnen!«
Er strengte sich an, ein Lächeln zu erzwingen, und er versetzte: »Das ist Einbildung von Ihnen. Sie sind vollständig im Irrtum.«
»Ich im Irrtum!« sagte der junge John. » Ich vollständig im Irrtum über diese Sache! Nein, Mr. Clennam, sagen Sie mir das nicht! Bei jeder andern Sache wäre das möglich, denn ich maße mir nicht an, sehr scharfblickend zu sein, und bin mir meiner Schwächen sehr gut bewußt. Aber ich soll mich irren über einen Punkt, der mir die Brust mehr zerrissen hat als ein Hagel von Pfeilen, die eine wilde Horde auf mich abschösse! Ich soll mich irren über einen Punkt, der mich beinahe in das Grab gebracht, was ich manchmal gewünscht, wenn sich das Grab nur mit dem Tabaksgeschäft und den Gefühlen für Vater und Mutter hätte vertragen können! Ich mich irren über einen Punkt, der mich selbst im gegenwärtigen Augenblick veranlaßt, mein Taschentuch, wie die Leute sagen, wie ein großes Mädchen herauszuziehen; obgleich ich nicht weiß, warum ein großes Mädchen ein Ausdruck des Vorwurfs sein sollte, denn jedes unverfälschte männliche Gemüt liebt sie groß und klein. Sagen Sie mir das nicht, sagen Sie mir das nicht!«
Im Grunde immer noch sehr ehrenwert, obgleich auf der Oberfläche lächerlich genug, zog der junge John sein Taschentuch heraus, und dies so ganz ohne Schaustellung oder Heimlichkeit, wie man es nur bei einem Mann, der ein tüchtiges Stück guten Charakters besitzt, finden wird, wenn er sein Taschentuch herauszieht, um sich die Augen damit abzuwischen. Nachdem er sie getrocknet und sich den harmlosen Genuß verschafft hatte zu schluchzen, steckte er es wieder ein.
Die Berührung wirkte noch immer so schlagartig nach, daß Arthur nicht viele Worte finden konnte, um die Sache zum Abschluß zu bringen. Er versicherte John Chivery, nachdem er sein Taschentuch wieder eingesteckt, daß er jener Uneigennützigkeit und der Treue, mit der er an Miß Dorrit festhalte, alle Anerkennung zollen müsse. Was die soeben von ihm kundgegebene Idee betreffe – hier unterbrach ihn John und sagte: »Keine Idee! Gewißheit!« –, so würden sie vielleicht ein andermal darüber sprechen, für den Augenblick aber wolle er nichts weiter sagen. Da er sich niedergedrückt und müde fühle, wolle er mit Johns Erlaubnis in sein Zimmer zurückkehren und es für diesen Abend nicht mehr verlassen. John gab seine Zustimmung, und er schlich in dem Schatten der Mauer nach seiner Wohnung zurück.
Das Gefühl des Schlags war noch so lebhaft, daß er, als das schmutzige alte Weib fort war, das er auf der Treppe vor seiner Tür sitzend fand, und das auf ihn wartete, um sein Bett zu machen, und ihm, während sie dies tat, zu verstehen gab, daß sie ihre Instruktionen von Mr. Chivery, ›nicht dem alten, sondern dem jungen‹, erhalten habe, – in den verschossenen Armstuhl sank und den Kopf mit beiden Händen zusammenpreßte, als wenn er betäubt wäre. Klein-Dorrit ihn lieben! Das machte ihn weit verwirrter als sein Unglück, weit verwirrter.
Man denke nur die Unwahrscheinlichkeit. Er war gewöhnt gewesen, sie sein Kind zu heißen, und sein liebes Kind, und ihr Vertrauen dadurch zu wecken, daß er auf den Unterschied in ihrem Alter Nachdruck legte und von sich wie von einem sprach, der alt würde. Aber sie hatte ihn vielleicht nicht für alt gehalten. Etwas erinnerte ihn sogar, daß er sich selbst nicht für alt gehalten habe, bis die Rosen auf dem Strom dahingeschwommen.
Er hatte ihre beiden Briefe unter andern Papieren in seinem Pult, und er holte sie hervor und las sie. Es schien ein Ton aus ihnen hervorzuklingen wie der Ton ihrer süßen Stimme. Es schlug an sein Ohr mit manchen zarten Tönen, die mit der neuen Bedeutung nicht unvereinbar waren. Jetzt fiel ihm die scheinbar ruhige und doch so verzweiflungsvolle Antwort: ›Nein, nein, nein‹ an jenem Abend in demselben Zimmer ein – an jenem Abend, wo er das Morgenrot ihres veränderten Schicksals gesehen und wo sie noch andere Worte gewechselt hatten, an die er sich nun in seiner Erniedrigung und Gefangenschaft erinnern sollte.
Man bedenke die Unwahrscheinlichkeit.
Aber diese nahm bei näherer Erwägung sichtlich ab. Eine andre und seltsame Frage seines Herzens drängte sich gleichzeitig immer mehr vor. Lag nicht in seinem Widerwillen gegen den Gedanken, daß sie einen andern liebe; in seinem Wunsche, diese Frage zu beseitigen; in seinem halbfertigen Bewußtsein, daß es edel sei, ihre Liebe zu einem andern zu unterstützen, – lag darin nicht ein unterdrücktes Etwas auf seiner Seite, das er beschwichtigt hatte, wie es in ihm lebendig zu werden anfing? Hatte er sich jemals zugeflüstert, daß er niemals denken dürfe, sie könne ihn lieben, daß er keinen Vorteil aus ihrer Dankbarkeit ziehen dürfe, daß er seine Erfahrung als Warnung und Mahnung vor Augen behalten müsse; daß er solche jugendliche Hoffnungen als geschiedene zu betrachten habe, wie seines toten Freundes Tochter geschieden sei; daß er nicht aufhören dürfe, sich zu sagen, die Zeit für ihn sei vorüber, und er sei zu ernst und zu alt?
Er hatte sie geküßt, als er sie vom Fußboden aufgehoben, an jenem Tage, als man sie so genau wie sonst und so bedeutungsvoll vergessen hatte. Ganz, wie er sie geküßt hätte, wenn sie bei Bewußtsein gewesen wäre? Kein Unterschied?
Das Dunkel fand ihn noch mit diesen Gedanken beschäftigt. Das Dunkel fand auch Mr. und Mrs. Plornish pochend an seiner Tür. Sie brachten ein Körbchen, gefüllt mit einer Auswahl jener Waren, die so raschen Absatz fanden und so langsam bezahlt wurden. Mrs. Plornish war zu Tränen gerührt. Mr. Plornish brummte liebenswürdig in seiner philosophischen, aber nicht sonderlich klaren Weise, daß es im Leben bald auf-, bald abwärts gehe. Es wäre vergeblich, zu fragen, warum bald auf-, bald abwärts, so sei es eben einmal. Er habe es als ganz sicher erzählen hören, daß, wie die Welt sich drehe, was gewiß und erwiesen sei, so müsse sich auch der vornehmste Mann gefallen lassen, mit dem Kopf nach unten zu stehen und sein Haar in der verkehrten Richtung im Raum, wenn man's so nennen dürfe, fliegen zu lassen. Gut denn. Was Mr. Plornish sagte, war: Gut denn also. Des einen Herrn Kopf würde in die Höhe kommen, wenn die Reihe an ihm wäre. Des andern Herrn Haar würde einen reizenden Anblick darbieten, so glatt würde es werden, und damit gut!
Wir haben bereits erwähnt, daß Mrs. Plornish, die keinen philosophischen Geist besaß, weinte. Es geschah ferner, daß Mrs. Plornish, die keinen philosophischen Geist besaß, verständlich war. Es war eine Folge ihrer milderen Stimmung oder des weiblichen Scharfblicks oder der raschen Kombinationsgabe oder des Mangels an Logik, der den Frauen eigen, – aber es geschah auch, daß Mrs. Plornishs Verständlichkeit sich gerade an dem Gegenstände betätigte, mit dem Arthurs Gedanken beschäftigt waren.
»Was Vater von Ihnen sagte, Mr. Clennam, werden Sie kaum glauben«, sagte Mrs. Plornish. »Es hat ihn ganz unglücklich gemacht. Und seine Stimme hat dieses Unglück ganz weggenommen. Sie wissen, wie schön Vater singt, aber er konnte auch nicht einen Ton beim Tee für die Kinder herausbringen, wenn Sie mir glauben wollen, was ich Ihnen sage.«
Während sie so sprach, schüttelte Mrs. Plornish ihren Kopf, wischte ihre Augen und sah sich mit Gedanken an die Vergangenheit im Zimmer um.
»Und was Mr. Baptist tun wird, wenn er es erfährt, kann ich mir gar nicht denken oder träumen«, fuhr Mrs. Plornish fort. »Sie können sicher sein, er wäre schon hier gewesen, wenn er nicht in Ihren eigenen vertraulichen Aufträgen fort wäre. Die Ausdauer, mit der er diesen Aufträgen nachgeht und sich keine Ruhe gönnt, – ist wahrhaftig«, sagte Mrs. Plornish und schloß in ihrer italienischen Weise, »wie ich zu ihm sage: erstaunlich, Padrona.«
Obgleich nicht eingebildet, fühlte Mrs. Plornish doch, daß sie diese toskanische Sentenz mit besonderer Eleganz angebracht. Mr. Plornish konnte seine Freude über ihre vollendete sprachliche Bildung nicht verbergen.
»Aber was ich sagen wollte, Mr. Clennam«, fuhr die gute Frau fort, »ist, daß wir immer noch für etwas dankbar sein müssen, wie Sie gewiß selber zugeben werden. Da wir in diesem Zimmer sprechen, so ist es nicht schwer, zu finden, was dieses Etwas ist. Man muß wahrhaftig sehr dankbar sein, daß Miß Dorrit nicht hier ist und es weiß.«
Arthur glaubte, sie sehe ihn mit besonderem Ausdruck an.
»Es ist etwas«, wiederholte Mr«. Plornish, »wofür man wirklich dankbar sein muß, daß Miß Dorrit weit weg von hier ist. Es steht zu hoffen, daß sie nichts davon hört. Wenn sie hier gewesen und es gesehen hätte, Sir, so läßt sich nicht zweifeln, daß Ihr Anblick«, Mrs. Plornish wiederholte diese Worte, – »nicht zu zweifeln, daß Ihr Anblick, wie Sie im Unglück und Bedrängnis schmachten, beinahe zu viel für ihr liebreiches Herz gewesen wäre. Ich kann mir auf der Welt nichts denken, was Miß Dorrit so schmerzlich berührt haben müßte als dies!«
Ganz gewiß sah Mrs. Plornish ihn jetzt mit einer Art zitternder Herausforderung in ihrer freundlichen Rührung an.
»Ja«, sagte sie. »Und es zeigt, wie gut der Vater Achtung gibt, obgleich er schon so bei Jahren ist, daß er diesen Nachmittag zu mir sagte, was, wie die Glückshütte weiß, ich weder erfinde, noch vergrößere: ›Mary, wir müssen doch recht froh sein, daß Miß Dorrit nicht da ist und es mit ansehen muß.‹ Das waren Vaters eigene Worte. Vaters eigene Worte waren: ›Wir müssen sehr froh sein, Mary, daß Miß Dorrit nicht da ist, um es mit ansehen zu müssen‹. Darauf sage ich zum Vater, sage ich, ›Vater, du hast recht!‹ Das«, schloß Mrs. Plornish mit der Miene eines sehr gewissenhaften Zeugen vor Gericht, »das ist's, was zwischen uns vorging. Und ich sage Ihnen nichts, als was zwischen mir und Vater vorging.«
Mr. Plornish, der von einem etwas lakonischeren Temperament war, ergriff diese Gelegenheit, um die Bemerkung einfließen zu lassen, daß sie jetzt Mr. Clennam sich selbst überlassen solle. »Denn du siehst«, sagte Mr. Plornish mit großem Ernst, »ich weiß, was es ist, Alte.« Diese wertvolle Bemerkung wiederholte er mehrmals, als ob sie ihm ein großes moralisches Geheimnis einzuschließen schiene. Zuletzt ging das würdige Paar Arm in Arm fort.
Klein-Dorrit, Klein-Dorrit, wieder ganze Stunden lang. Immer Klein-Dorrit!
Zum Glück, wenn es je so gewesen, war es vorbei, und es war besser so. Angenommen, daß sie ihn geliebt hätte und er es gewußt und seiner Liebe nachgegeben hätte, welchen Weg hätte er sie dann geführt, – den Weg, der sie an diesen Jammerort zurückgebracht hätte. Es mußte für ihn ein außerordentlich tröstlicher Gedanke sein, daß sie für immer von diesem Ort geschieden war; daß sie verheiratet war oder bald heiraten würde (unbestimmte Gerüchte von ihres Vaters Plänen in dieser Richtung waren in den Hof zum blutenden Herzen zur gleichen Zeit mit der Nachricht von ihrer Schwester Hochzeit gekommen), und daß das Tor des Marschallgefängnisses allen diesen wirren Möglichkeiten einer vergangenen Zeit sich für immer verschlossen hatte.
Liebe Klein-Dorrit!
Wenn er zurückblickte auf seine Leidensgeschichte, so erschien sie ihm wie ein verschwindendes Moment darin. Alles führte in der Perspektive auf ihre unschuldige Gestalt hin. Er war Tausende von Meilen nach diesem Ziele gereist; frühere unruhige Hoffnungen und Zweifel hatten sich davor gelöst, es war der Mittelpunkt der Interessen seines Lebens; es war der Schlußpunkt von allem, was gut und angenehm darin war; darüber hinaus war nichts als bloße Wüstenei und dunkler Himmel.
So ruhelos wie in der ersten Nacht, als er sich innerhalb dieser traurigen Mauern zu Bett gelegt hatte, brachte er diese Nacht mit solchen Gedanken zu. Unterdessen lag der junge John in friedlichem Schlummer, nachdem er folgende Grabschrift auf seinem Kissen zusammengestellt und angeordnet hatte:
Fremdling! Achte das Grab von John Chivery junior, gestorben in hohem Alter, das der Erwähnung nicht wert. Er begegnete seinem Nebenbuhler in Bedrängnis und fühlte Lust, sich mit ihm zu boxen. Aber um der Geliebten willen bekämpfte er diese bitteren Gefühle und zeigte sich hochherzig. 
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