Sie stieg die Treppe zur zweiten Etage hinan, ließ den »Altan« zur Rechten liegen, ging an dem weißgoldenen Geländer der Galerie entlang und durchschritt ein Vorzimmer, dessen Tür zum Korridor offenstand und von dem ein zweiter Ausgang linkerseits in das Ankleidezimmer des Senators führte. Dann drückte sie vorsichtig auf den Griff der geradeaus gelegenen Tür und trat ein.
Es war eine außerordentlich geräumige Stube, deren Fenster mit faltigen, großgeblümten Vorhängen verhüllt waren. Die Wände waren ein wenig kahl. Abgesehen von einem sehr großen schwarzgerahmten Stich, der über Fräulein Jungmanns Bett hing und Giacomo Meyerbeer, umgeben von den Gestalten seiner Opern, darstellte, gab es nur noch eine Anzahl von englischen Buntdrucken, die Kinder mit gelbem Haar und roten Babykleidern darstellten und mit Stecknadeln an der hellen Tapete befestigt waren. Ida Jungmann saß in der Mitte des Zimmers an dem großen Ausziehtisch und stopfte Hannos Strümpfchen. Die treue Preußin stand nun am Anfang der Fünfziger, aber obgleich sie sehr früh begonnen hatte, zu ergrauen, war ihr glatter Scheitel doch noch immer nicht weiß geworden, sondern in einem bestimmten Zustande der Melierung verblieben, und ihre aufrechte Gestalt war so starkknochig und rüstig, ihre braunen Augen waren so frisch, klar und unermüdlich wie vor zwanzig Jahren.
»Guten Abend, Ida, du gute Seele!« sagte Frau Permaneder gedämpft aber fröhlich, denn die kleine Erzählung ihres Bruders hatte sie in die beste Stimmung versetzt. »Wie geht es dir, du altes Möbel?«
»Ei, ei, Tonychen; Möbel, mein Kindchen? So spät noch hier?«
»Ja, ich war bei meinem Bruder … in Geschäften, die keinen Aufschub duldeten … Leider hat sich die Sache zerschlagen … Schläft er?« fragte sie und wies mit dem Kinn nach dem kleinen Bette, welches an der linken Seitenwand stand, das grünverhüllte Kopfende hart an der hohen Tür, die zum Schlafzimmer Senator Buddenbrooks und seiner Gattin führte …
»Pst«, sagte Ida; »ja, er schläft.« Und Frau Permaneder trat auf den Zehenspitzen an das Bettchen, lüftete vorsichtig die Gardinen und lugte gebückt in das Gesicht ihres schlafenden Neffen.
Der kleine Johann Buddenbrook lag auf dem Rücken, hatte aber sein von dem langen, hellbraunen Haar umrahmtes Gesichtchen dem Zimmer zugewandt und atmete mit einem leichten Geräusch in das Kopfkissen hinein. Von seinen Händen, deren Finger kaum aus den viel zu langen und weiten Ärmeln seines Nachthemdes hervorsahen, lag die eine auf seiner Brust, die andere neben ihm auf der Steppdecke, und dann und wann zuckten die gekrümmten Finger leise. Auch an den halb geöffneten Lippen war eine schwache Bewegung bemerkbar, als versuchten sie, Worte zu bilden. Von Zeit zu Zeit ging, von unten nach oben, etwas Schmerzliches über dieses ganze Gesichtchen, das, mit einem Erzittern des Kinnes beginnend, sich über die Mundpartie fortpflanzte, die zarten Nüstern vibrieren ließ und die Muskeln der schmalen Stirn in Bewegung versetzte … Die langen Wimpern vermochten nicht die bläulichen Schatten zu verdecken, die in den Augenwinkeln lagerten.
»Er träumt«, sagte Frau Permaneder gerührt. Dann beugte sie sich über das Kind, küßte behutsam seine schlafwarme Wange, ordnete mit Sorgfalt die Gardine und trat wieder an den Tisch, wo Ida, im gelben Schein der Lampe, einen neuen Strumpf über die Stopfkugel zog, das Loch prüfte und es zu schließen begann.
»Du stopfst, Ida. Merkwürdig, ich kenne dich eigentlich gar nicht anders!«
»Ja, ja, Tonychen … Was das Jungchen alles zerreißt, seit er zur Schule geht!«
»Aber er ist doch ein so stilles und sanftes Kind?«
»Ja, ja … Aber doch.«
»Geht er denn gern zur Schule?«
»Nein, nein, Tonychen! Hätt' lieber noch bei mir weiterlernen wollen. Und ich hätt's auch gewünscht, mein Kindchen, denn die Herren kennen ihn ja nicht so von klein auf wie ich und wissen es nicht so, wie man ihn nehmen muß beim Lernen … Das Aufmerken wird ihm oft schwer, und er wird rasch müde …«
»Der Arme! Hat er schon Schläge bekommen?«
»Aber nein! Mei boje kochhanne … sie werden doch nicht so hartherz'g sein wollen! Wenn das Jungchen sie ansieht …«
»Wie war's denn eigentlich, als er zum ersten Male hinging? Hat er geweint?«
»Ja, das hat er. Er weint so leicht … Nicht laut, aber so in sich hinein … Und dann hat er deinen Herrn Bruder am Rock festhalten wollen und immer wieder gebeten, er möchte dableiben …«
»So, hat mein Bruder ihn hingebracht?… Ja, das ist ein schwerer Moment, Ida, glaube mir. Ha, ich weiß es wie gestern! Ich heulte … ich versichere dich, ich heulte wie ein Kettenhund, es wurde mir entsetzlich schwer. Und warum? Weil ich es zu Hause so gut gehabt hatte, gerade wie Hanno. Die Kinder aus vornehmen Häusern weinten alle, das ist mir sofort aufgefallen, während die anderen sich gar nichts daraus machten und uns anglotzten und grinsten … Gott! was ist ihm, Ida –?!«
Sie vollendete ihre Handbewegung nicht und wandte sich erschrocken nach dem Bettchen um, von wo ein Schrei ihr Plaudern unterbrochen hatte, ein Angstschrei, der sich im nächsten Augenblick mit noch gequälterem, noch entsetzterem Ausdruck wiederholte und dann drei-, vier-, fünfmal rasch nacheinander erklang … »Oh! oh! oh!« ein vor Grauen überlauter, entrüsteter und verzweifelter Protest, der sich gegen etwas Abscheuliches richten mußte, was sich zeigte oder geschah … Im nächsten Augenblick stand der kleine Johann aufrecht im Bette, und während er unverständliche Worte stammelte, blickten seine weitgeöffneten, so eigenartig goldbraunen Augen, ohne etwas von der Wirklichkeit wahrzunehmen, starr in eine gänzlich andere Welt hinein …
»Nichts«, sagte Ida. »Der pavor. Ach, das ist manchmal noch viel ärger.« Und in aller Ruhe legte sie die Arbeit beiseite, ging mit ihren langen, schweren Schritten auf Hanno zu und legte ihn, während sie mit tiefer, beruhigender Stimme zu ihm sprach, wieder unter die Decke.
»Ja, so, der pavor …« wiederholte Frau Permaneder. »Wacht er nun?«
Aber Hanno wachte keineswegs, obgleich seine Augen weit und starr blieben und seine Lippen fortfuhren, sich zu bewegen …
»Wie? So … so … Nun hören wir auf zu plappern … Was sagst du?« fragte Ida; und auch Frau Permaneder trat näher, um auf dies unruhige Murmeln und Stammeln zu horchen.
»Will ich … in mein … Gärtlein gehn …«, sagte Hanno mit schwerer Zunge, »will mein' Zwiebeln gießen …«
»Er sagt seine Gedichte her«, erklärte Ida Jungmann mit Kopfschütteln. »So, so! Genug, schlaf nun, mein Jungchen!…«
»Steht ein … bucklicht Männlein da, … fängt als an zu niesen …«, sagte Hanno und seufzte dann. Plötzlich aber veränderte sich sein Gesichtsausdruck, seine Augen schlossen sich halb, er bewegte den Kopf auf dem Kissen hin und her, und mit leiser, schmerzlicher Stimme fuhr er fort:
»Der Mond der scheint,
Das Kindlein weint,
Die Glock schlägt zwölf,
Daß Gott doch allen Kranken helf!…«
Bei diesen Worten aber schluchzte er tief auf, Tränen traten hinter seinen Wimpern hervor, liefen langsam über seine Wangen … und hiervon erwachte er. Er umarmte Ida, sah sich mit nassen Augen um, murmelte befriedigt etwas von »Tante Tony«, schob sich ein wenig zurecht und schlief dann ruhig weiter.
»Sonderbar!« sagte Frau Permaneder, als Ida sich wieder an den Tisch setzte. »Was für Gedichte waren das, Ida?«
»Sie stehen in seinem Lesebuch«, antwortete Fräulein Jungmann, »und darunter ist gedruckt: ›Des Knaben Wunderhorn‹. Sie sind kurios … Er hat sie in diesen Tagen lernen müssen, und über das mit dem Männlein hat er viel gesprochen. Kennst du es?… Recht graulich ist es. Dies bucklige Männlein steht überall, zerbricht den Kochtopf, ißt das Mus, stiehlt das Holz, läßt das Spinnrad nicht gehen, lacht einen aus … und dann, zum Schlusse, bittet es auch noch, man möge es in sein Gebet einschließen! Ja, das hat es dem Jungchen nun angetan. Er hat tagein – tagaus darüber nachgedacht. Weißt du, was er sagte? Zwei-, dreimal hat er gesagt: ›Nicht wahr, Ida, es tut es nicht aus Schlechtigkeit, nicht aus Schlechtigkeit!… Es tut es aus Traurigkeit und ist dann noch trauriger darüber … Wenn man betet, so braucht es das alles nicht mehr zu tun.‹ Und heute abend noch, als seine Mama ihm Gute Nacht sagte, bevor sie ins Konzert ging, hat er sie gefragt, ob er auch für das bucklige Männlein beten solle …«
»Und hat es auch getan?«
»Nicht laut, aber wahrscheinlich im stillen … Aber über das andere Gedicht, das ›Ammenuhr‹ heißt, hat er gar nicht gesprochen, sondern nur geweint. Er gerät so leicht ins Weinen, das Jungchen, und kann dann lange nicht aufhören …«
»Aber was ist denn so traurig darin?«
»Weiß ich … Über den Anfang, die Stelle, bei der er sogar eben im Schlafe schluchzte, kam er beim Aufsagen nie hinweg … und auch nachher über den Fuhrmann, der sich schon um drei von der Streu erhebt, hat er geweint …«
Frau Permaneder lachte gerührt und machte dann ein ernstes Gesicht.
»Aber ich will dir sagen, Ida, es ist nicht gut, ich halte es nicht für gut, daß ihm alles so nahe geht. Der Fuhrmann steht um drei Uhr auf – nun, mein lieber Gott, dafür ist er ein Fuhrmann! Das Kind – soviel weiß ich schon – neigt dazu, alle Dinge mit zu eindringlichen Augen anzusehen und sich alles zu sehr zu Herzen zu nehmen … Das muß an ihm zehren, glaube mir. Man sollte einmal ernstlich mit Grabow sprechen … Aber das ist es eben«, fuhr sie fort, indem sie die Arme verschränkte, den Kopf zur Seite neigte und mißmutig mit der Fußspitze auf dem Boden trommelte; »Grabow wird alt, und, abgesehen davon: so herzensgut er ist, ein Biedermann, ein wirklich braver Mensch … was seine Eigenschaften als Arzt betrifft, so halte ich nicht gerade große Stücke auf ihn, Ida, Gott verzeihe mir, wenn ich mich in ihm täusche. So zum Beispiel mit Hannos Unruhe, seinem Auffahren bei Nacht, seinen Angstanfällen im Traume … Grabow weiß es, und alles, was er tut, ist, daß er uns sagt, was es ist, uns einen lateinischen Namen nennt: pavor nocturnus … ja, lieber Gott, das ist sehr belehrend … Nein, er ist ein lieber Mann, ein guter Hausfreund, alles; aber ein Licht ist er nicht. Ein bedeutender Mensch sieht anders aus und zeigt schon in der Jugend, daß etwas an ihm ist. Grabow hat die Zeit von Achtundvierzig mit erlebt; er war ein junger Mann damals. Aber meinst du, daß er sich jemals erregt hat – über die Freiheit und die Gerechtigkeit und den Umsturz von Privilegien und Willkür? Er ist ein Gelehrter, aber ich bin überzeugt, daß die unerhörten Bundesgesetze von damals über die Universitäten und die Presse ihn vollständig kalt gelassen haben. Er hat sich niemals ein wenig wild gebärdet, niemals ein wenig über die Schnur gehauen … Er hat immer sein langes, mildes Gesicht gehabt, und nun verordnet er Taube und Franzbrot und, wenn der Fall ernst ist, einen Eßlöffel Altheesaft … Gute Nacht, Ida … Ach nein, ich glaube, da gibt es ganz andere Ärzte!… Schade, daß ich Gerda nicht mehr sehe … Ja, danke, es ist noch Licht auf dem Korridor … Gute Nacht.«