Mei, Genies waren’s die Walzerkönige, die Brüder Strauß. Und weil ein Genie alles allein - bzw. zu drein - kann, auch tausende von Walzern komponieren, müssen anderslautende Beweise vernichtet werden. Darf ich um Feuer bitten? Autor: Xaver Frühbeis
Am 22. Oktober 1907 steht über der Stadt Wien eine Rauchwolke. Ein alter Mann lässt Noten verbrennen. In der Tonöfenfabrik Karl Raus, Eszterházygasse 8, in einem der großen Fabriköfen, in denen sonst Tonware gebrannt wird, gehen zum Preis von zwei Kronen pro Doppelzentner Partituren und Orchester-Stimmbücher in Flammen auf. Fünf Stunden lang dauert die große Aktion, von 2 Uhr nachmittags bis 7 Uhr abends. Am nächsten Tag lässt der alte Mann in der Tonöfenfabrik des k. u. k. Lieferanten Bernhard Erndt in der Pramergasse zwei weitere Wagenladungen Noten verbrennen. Vor die Feueröfen hat er sich einen Lehnsessel stellen lassen, aus ihm heraus überwacht er die Verbrennungsaktion.
Der Alte war der "schöne Edi"
Der alte Mann ist der letzte Überlebende der weltberühmten Wiener Walzer-Dynastie, der jüngste der drei Strauß-Brüder Johann, Josef und Eduard Strauß. Aus den Noten, die er hier vernichten lässt, haben einst seine Musiker gespielt. Und nicht nur die seinen: Eduard Strauß lässt das gesamte handgeschriebene, nie gedruckte Notenmaterial aller Strauß‑Kapellen verbrennen - zweieinhalbtausend wertvolle Stimmenpakete und Partituren. Was für ein barbarischer Akt. Es sei, sagt der Strauß-Spezialist Norbert linke, die größte Musikalien-Vernichtungsaktion in der Geschichte der Musik gewesen. Erst bei dem verheerenden Luftangriff auf Leipzig im Frühjahr 1943 sei es zu ähnlich schweren Verlusten gekommen, als das komplette Archiv des Musikverlags Cranz verbrannte.
Was Eduard Strauß da getan hat, stellt die Welt bis heute vor Rätsel. War es der Racheakt eines altersstarren Mannes, weil er sich von seinen erfolgreicheren Brüdern ungerecht behandelt fühlte? Aber die Strauß‑Kapellen gab es nicht mehr, beide Brüder waren längst gestorben, es war niemand mehr da, dem die Verbrennungsaktion schaden konnte. Norbert linke verfolgt eine andere Idee. Er ist der Überzeugung, dass Eduard Strauß in der großen Verbrennungsaktion verräterische Spuren beseitigt hat.
linke hat einige Pakete mit Orchesterstimmen untersucht, die der Verbrennungsaktion entgangen sind. Alle Sträusse, sagt linke, besonders aber Johann Vater und Sohn, waren Vorreiter einer ganz neuen Art von Unterhaltungsindustrie. Vater Strauß sei der Erfinder der Herstellung von Tanzmusik im Fließbandverfahren.
Strauß und Co. KG
Es war alles ganz einfach: Strauß hat seine Einfälle, wann immer sie kamen, in ein Skizzenbuch notiert. War eine neue Walzerfolge fällig, suchte er sich passende Melodien heraus. Dann trat die Fabrik in Aktion. Ein Mitarbeiter notierte zur Melodie den Bass, zwei andere ergänzten die Mittelstimmen, zwei weitere legten fest, welche Instrumente was spielen sollten. Strauß selbst übernahm dann nur mehr die Schlussredaktion.
Jeder Industrielle kann bestätigen, dass so eine Methode kräftesparend, schnell und effizient ist. Durch sie hat sich Strauß Vater den entscheidenden Vorsprung vor den Wiener Konkurrenzkapellen gesichert. Vor allem aber kam die Methode seinen drei Söhnen zugute.