Der Zug der Lemminge: sie begehen Massenselbstmord, lernen wir in Disneys Dokumentarfilm. Dabei war es Mord! So viel zum angeblich hirnlosen Massenverhalten der Lemminge. Autorin: Prisca Straub
Für Alfred Brehm, den berühmten deutschen Zoologen, waren sie "ganz allerliebste Kerls". Sogar nachdem sich ein norwegischer Lemming zornig fiepend in sein "Beinkleid" verbissen hatte, zeigte sich der Tierforscher nicht nachtragend: Was für "schmucke, behände und mutige Geschöpfe!" - Allerdings: Hin und wieder scheinen sie "alles um sich her zu vergessen " und zum "treuen Spiegelbild eines bösartigen Hamsters" zu werden.
Sie platzen vor Wut
Auch der Volksmund nennt sie "Kampfhamster". Lemminge dulden keine Belästigung, boxen wild mit den Vorderpfötchen, zischen ärgerlich und können
- angeblich - vor Wut sogar platzen. Lemminge sind offenbar gut für allerhand seltsame Geschichten. Doch das meiste von dem, was den wühlmausartigen Tierchen im Lauf der Zeit angedichtet wurde, gehört ins Reich der Legenden.
Noch heute glauben Bauern in den abgelegenen Gebirgen Skandinaviens, die wild umhertrippelnden Nager-Trupps kämen vom Himmel - herabgeregnet. Wie eine Sturzflut! Deshalb träten sie in regelmäßigen Abständen in solchen Massen auf. Überfallartig. Wie eine biblische Plage! Und tatsächlich: Ein Lemming-Volk unterliegt großen Populationsschwankungen. In Zeiten mit reicher Speisekarte
- im Schnitt so alle vier bis fünf Jahre - vermehren sich die Tiere explosionsartig.
Dann muss ein Teil von ihnen abwandern, um zu überleben, und plötzlich sind die Landschaften voll von hungrigen, bunt gefleckten Nagern. Dass die Tiere auf diesen Massenwanderungen allerdings zu Tausenden Selbstmord begehen?
So eine Art kollektiver Freitod? Nein, das wiederum ist reiner Unsinn! Und haarsträubend ist auch, wer diese Legende höchst publikumswirksam verbreitet hat:
Für diesen Film wurden Tiere gequält und ihrer Art unentsprechend behandelt
Walt Disney! Ausgerechnet der Experte für niedliche Tiergeschichten!
Am 12. August 1958 kam "White Wilderness" in den USA in die Kinos
- "Weiße Wildnis". Der angebliche Dokumentarfilm über das Leben der Lemminge in der Arktis zeigt die Winzlinge, wie sie über eine steile Klippe in den Tod stürzen - ein endloser Taumel an pelzigen Leibern. Panisch krallen sich die Tiere an jedem Felsvorsprung fest - und fallen dennoch dem sicheren Tod entgegen. Begleitet von pompöser Orchestermusik.
Doch wer genau hinschaut, der erkennt sofort: Es tauchen immer wieder dieselben Szenen auf: geschickt aneinandergeschnittene, abstürzende Lemminge in Endlosschleife. Erst Jahre später enthüllt ein Journalist: Das Filmteam hatte die Tiere erst gekauft und dann zum Drehort transportiert. Dort inszenierten sie den Eindruck eines umherirrenden Nager-Volks. Zum Abschluss trieben sie die Tiere dann schlicht über die Klippe - um des dramatischen Effekts willen!
In der Schlusseinstellung sehen wir dann, wie die angeblich lebensmüden Pelztierchen trostlos ins offene Meer - und dem sicheren Tod entgegen paddeln. Lemminge, so der Sprecher, lösen ihre Übervölkerung durch Massenselbstmord. Dabei konnte von freiwillig aus dem Leben scheiden keine Rede sein. Doch dieser "Naturfilm" aus der Disney-Werkstatt hat dazu beigetragen, dass Lemminge zum Inbegriff für hirnloses Massenverhalten geworden sind. Bis heute.
"Weiße Wildnis" kam beim Publikum übrigens gut an - richtig gut. Die vielleicht dreisteste Lüge in der Tierfilmgeschichte wurde in der Kategorie
"Bester Dokumentarfilm" mit einem Oscar ausgezeichnet.