Ignaz Semmelweis hatte Mitte des 19. Jahrhunderts als erster erkannt, dass Ärzte mit Leichengiften an den Händen schlechte Geburtshelfer sind. Doch seine Kollegen reagierten mit Arroganz und Spott. Autorin: Astrid Mayerle
Der Mensch braucht Beweise, die ihn überzeugen - nicht nur in der Liebe, auch im Leben. Das gute Gefühl, das Vertrauen in die Sache, die eigenen Erfahrungswerte, all das genügt nicht.
Endlich hat die Gehirnforschung bestätigt, was Marcel Proust bereits vor rund einhundert Jahren beobachtet hat: dass Erinnerung und Geruchssinn gekoppelt sind. Endlich haben Neoropsychologen Belege geliefert, dass das Erlernen eines Instruments den IQ steigert.
Endlich hat ein argentinischer Schlafforscher durch eine empirische Untersuchung bestätigt, was Menschen entspannt und wirklichen Tiefschlaf ermöglicht: Sex.
Das alles mag man jetzt also gern glauben, doch nicht immer ist es so einfach, denn oft helfen auch die besten Beweise nichts - Beispiel Ignaz Semmelweis.
Vor der Geburt und vor dem Essen: Händewaschen nicht vergessen
Der in Wien tätige Arzt war sich seiner Erkenntnis sicher, obwohl der Großteil seiner Zeitgenossen zweifelte und ihn als Scharlatan verschrie:
Mitte des 19. Jahrhunderts führte er das häufig auftretende Kindbettfieber auf mangelnde hygienische Verhältnisse in den Krankenhäusern zurück.
Er beobachtete, dass einer seiner Kollegen sich bei einer Leichensektion mit einem Skalpell verletzte. Bald darauf starb er an einer Blutvergiftung, die ganz ähnliche Symptome zeigte, wie das Kindbettfieber. Für Semmelweis der Anlass, auf seiner Station des Allgemeinen Krankenhauses in Wien neue Sauberkeitsstandards einzuführen. Sofort ging die Sterblichkeitsrate der Mütter drastisch zurück. Semmelweis empfahl auch den Kollegen anderer Stationen und Krankenhäuser höhere Hygienestandards. Doch so einfach die Maßnahmen waren, so sehr sträuben sich die Ärzte seiner Zeit, diese zu befolgen.
Sie hielten etwa Händewaschen für reine Zeitverschwendung.
Semmelweis wollte mit Beweisen überzeugen: In den Jahren 1847/48 stellte er verschiedene Studien an. Dabei desinfizierten seine Studenten nach Leichensektionen ihre Hände und das Untersuchungsbesteck mit Chlorkalk, vor allem dann, wenn sie anschließend bei einer Geburt assistierten. prompt sank die Sterblichkeitsrate der Mütter von über zwölf auf bis zu zwei Prozent.
Doch die historischen Briefwechsel und Zeitungsnachrichten liefern noch heute unglaubliche Beispiele wissenschaftlicher Hybris unter der Ärzteschaft.
Die Kollegen gaben sich skeptisch und lehnten es schlicht ab, die einfachen Maßnahmen auszuprobieren. Sie wollten die Erkenntnisse nicht einmal prüfen, bevor sie sie verwarfen. Sie bestraften Semmelweis mit Ignoranz und Spott, anstatt seine wegweisende Entdeckung zu unterstützen.
Ein "verbannter Wohltäter"
Diese Ignoranz hat Methode. Erst 150 Jahre später fand der amerikanische Bestsellerautor Robert Anton Wilson für genau diese Haltung den treffenden Begriff, nämlich: Semmelweis-Reflex. Es geht um eine Mischung aus Kollegen-Neid, Bequemlichkeit und verdrängter Schuld. Dennoch: Unter den ganz wenigen Befürwortern der Semmelweis-Theorie fand sich ein gewisser Dr. Kugelmann aus Hannover. Er schrieb am 10. August 1861 folgenden tröstenden Brief an seinen Kollegen:
"Nur sehr wenigen war es vergönnt, der Menschheit wirkliche, große und dauernde Dienste zu erweisen, und mit wenigen Ausnahmen hat die Welt ihre Wohltäter gekreuzigt und verbannt. Ich hoffe also, Sie werden in dem ehrenvollen Kampfe nicht ermüden, der Ihnen noch übrig bleibt."
Genau das ist allerdings passiert: Semmelweis resignierte und starb in geistiger Verwirrung.