Damals wie heute: Der Europäer tut sich schwer mit den fremden Kulturen. Und die bisweilen auch mit ihm. Davon kann Gulliver ein Lied singen. Jonathan Swift nimmt diese zeitlosen Probleme in "Gullivers Reisen" satirisch aufs Korn. Autorin: Brigitte Kohn
Der Schriftsteller George Orwell hat einmal gesagt, dass “Gullivers Reisen“ eines von etwa sechs Büchern sei, die unbedingt gerettet werden müssten, wenn alle anderen Bücher vom Erdboden verschwänden. Damit meint er nicht die harmlosen, stark gekürzten Kinderbuchversionen, sondern den messerscharfen satirischen Roman, den Jonathan Swift 1726 in England anonym veröffentlicht hat. In ihm nimmt er nicht nur Politik und Kultur des Zeitalters der Aufklärung und der Entdeckungsreisen aufs Korn, sondern die Menschheit schlechthin. Die moderne Menschheit, die auf Autonomie und Vernunft setzt und dabei so triebgesteuert und machtgierig bleibt, wie sie immer war.
An den Ufern fremder Zivilisationen
Swifts Held, der reisende Schiffsarzt Gulliver, ist ein Kind seiner Zeit, neugierig auf Wissenschaft und ferne Länder. Aber er erlebt einen Schiffbruch nach dem anderen und liegt wie ein gestrandeter Wal an den Ufern fremder Zivilisationen, angewiesen darauf, dass diese ihn aufnehmen und beim Überleben helfen. Das tun sie auch, aber aus Selbstsucht und ohne dauerhaften Erfolg.
Für die Lilliputaner zum Beispiel, die kleiner sind als Gullivers Daumen, ist der Riese eine Sensation und nützlich obendrein. Er stiehlt mal eben die Kriegsflotte des verfeindeten Nachbarreiches und betätigt sich als öffentliche Feuerwehr: einmal kurz in die Flammen gepinkelt, und der brennende Palast ist gerettet. Seine Versorgung mit Essen und Kleidung schafft Arbeitsplätze für Tausende. Aber die Freude ist nicht von Dauer. Denn Gulliver weigert sich, das Nachbarland zu vernichten. Stattdessen verdreht er einheimischen Frauen den Kopf und beleidigt durch seine Methode der Brandbekämpfung die allgemeine Moral. Der Unterhalt seines monströsen Körpers belastet die Staatskasse. Gulliver ist auf Dauer nicht integrierbar: zu fremd, zu anders.
Die Stimmung kippt, und Gulliver flieht. Am 13. April 1702, so berichtet der Autor, ist er zurück im heimischen England. In seiner Jackentasche hat er lebende Schafe und Rinder aus Lilliput, die er gegen Geld öffentlich zur Schau stellt.
Seine nächste Reise endet im Land der Riesen, die ihn dann ihrerseits in Taschen und Käfige stecken, um ihn über Jahrmärkte zu schleppen. Menschen sind halt überall gleich: voller Gier nach Macht und Geld.
Von Riesen, Zwerge und Monstern
Jonathan Swift hat seinen Roman mit präzisen Daten gespickt, damit er wie ein authentischer Reisebericht wirkt. Und tatsächlich schaut auch so mancher Leser der ersten Auflage auf der Landkarte nach, wo Lilliput liegt. Reiseberichte sind der beliebteste Lesestoff der Zeit. Fast alle berichten von Riesen und Zwergen und monströsen Kreaturen in den neu entdeckten Ländern. Die ach so vernünftigen europäischen Eroberer tun sich eben schwer damit, fremde Kulturen zu deuten, und entwerfen Zerrbilder, die Jonathan Swift satirisch aufs Korn nimmt.
“Gullivers Reisen“ sind ein Roman über die Risiken und Brüche der menschlichen Identität und über den schwierigen Umgang mit dem Fremden:
zeitlos gültig, bis heute.