Manchmal braucht es im Leben Geduld. Wie auch in der Kunst. Denn selbst, wenn alles darauf hindeutet: Wenn es so ist, dann kann es eigentlich nur so sein - glauben es trotzdem nicht alle. Zum Beispiel, dass dieser Michelangelo ein echter ist! Autorin: Prisca Straub
Manchmal sind verloren geglaubte Dinge genau da, wo sie hingehören. Nur macht sich niemand die Mühe nachzusehen. In diesem Fall sogar Jahrhunderte lang. Bis einer Freiburger Kunsthistorikerin die Sache keine Ruhe lässt. Sie weiß: In Florenz hat der junge Michelangelo einen Gekreuzigten geschnitzt. Aus Pappelholz. Nahezu lebensgroß. Einen nackten Christus mit engelsgleichen Zügen, wie es heißt. Nur gilt das wertvolle Schnitzwerk seit Jahrhunderten als verschollen. Michelangelo war nicht mal 20 Jahre alt, als er es 1493 vollendete. Danach hing das Kruzifix nachweislich über dem Hochaltar von Santo Spirito am Arno-Ufer. Dann verlieren sich die Spuren.
Santo Spirito
Und genau dort, im Kloster von Santo Spirito, nimmt die Kunsthistorikerin Margrit Lisner 1962 die Fährte wieder auf. Sie durchforstet die Kammern vom Keller bis unters Dach. Allerlei triviales Kunsthandwerk kommt zum Vorschein. Wertloser Plunder. Doch Margrit Lisner hat einen scharfen Blick: Unter achtlos entsorgtem Gerümpel entdeckt sie ein Werk, das ihr sofort ins Auge sticht: ein Christus. Zwar ist das Antlitz unter der plump aufgetragenen Farbschicht kaum noch zu erkennen - fremde, stümperhafte Hände haben den Heiland übel zugerichtet - doch der schmalgliedrige Jüngling elektrisiert die Kennerin. Ist es die angedeutete Drehung des grausam fixierten Körpers? Die Muskeln und Sehnen, die sich so realistisch abzeichnen? Oder das Gesäß, das durch die leichte Hüftdrehung ungewöhnlich voll hervortritt? Der Überraschungsfund bringt die Kunstwelt in Wallung. Handelt es sich tatsächlich um das verloren geglaubte Jugendwerk Michelangelos -
oder nur um minderwertigen Kitsch?!
Dank Küchenmesser und Schere
Ein Blick zurück - Florenz auf der Schwelle zur Hochrenaissance ist ein Hexenkessel: Lorenzo de' Medici - der Prächtige - ist soeben verstorben. Savonarola - der feurige Bußprediger - hetzt die Bevölkerung auf. Und der Bildhauerlehrling Michelangelo Buonarroti konsultiert die Bibliothek von Santo Spirito. Der alte Prior ist dem jungen Künstler herzlich zugetan: Er macht ihm brisante medizinische Werke zugänglich - und die klösterliche Leichenkammer! Zwar steht das Sezieren unter Todesstrafe, doch Michelangelo will wissen, was den Menschen im Innersten zusammenhält. Einen klammen Winter und viele Nächte lang besucht er die frisch Verstorbenen. Arbeitet sich heimlich vor - durch Fett und Muskelgewebe bis hin zu Eingeweiden und Gehirn. In einem kleinen fensterlosen Raum - mit Küchenmesser und Schere - im kümmerlichen Lichtschein einer Kerze. Zum Dank wünscht sich der Prior einen lebensgroßen Christus für den Hochaltar seiner Kirche. Und bekommt ihn.