Unter den Büchern, die ich letzthin Ole geliehen hatte, war eins, welches ihn namentlich erfreute und erfüllte, nämlich ein Buch von den Gesteinen.
»Ja, das sind wahrhaftige Jubelgreise, diese Gesteine!« sagte er, »und an ihnen geht man gedankenlos vorüber! Ich selber habe es getan auf dem Feld und am Strand, wo sie in Mengen liegen. Und über das Straßenpflaster, die Pflastersteine, diese Brocken der allerältesten Überreste des Altertums, schreitet man auch so ohne weiteres dahin! Auch dies habe ich getan. Jetzt aber zolle ich jedem Pflasterstein meine Hochachtung. Schönsten Dank für das Buch, es hat mich mit Gedanken erfüllt und alte Ansichten und Gewohnheiten zum Weichen gebracht, hat mich erpicht gemacht, mehr von der Art zu lesen. Der Roman der Erde ist doch der ehrwürdigste aller Romane! Schade nur, daß man die ersten Teile nicht lesen kann, weil sie in einer Sprache abgefaßt sind, die wir nicht gelernt haben; man muß in den Erdschichten, in den Kieselsteinen, in allen Erdperioden lesen, und die handelnden Personen, Herr Adam und Frau Eva, treten erst in dem sechsten Teil auf; das ist dann vielen Lesern zu spät, sie möchten sie gleich im ersten Teil haben – mir ist das auch so recht. Ja, das ist ein Roman, ein höchst abenteuerlicher Roman, und wir alle kommen in ihm vor. Wir kribbeln und krabbeln umher und bleiben doch an demselben Ort, aber die Kugel dreht sich, ohne daß das Weltmeer über uns ausgegossen wird; die Scholle, auf der wir uns bewegen, hält schon, wie fallen nicht durch; und dann ist es eine Geschichte, die sich durch Millionen von Jahren hindurchzieht und die ewig weitergeht. Besten Dank für das Buch von den Gesteinen, das sind Kerle! Die könnten was erzählen, wenn sie es überhaupt könnten! Es ist so recht ein Vergnügen, einmal dann und wann ein Nichts zu werden, und vollends, wenn man so hoch sitzt wie ich, und dann zu denken, daß wir alle, selbst mit Glanzwichse, weiter nichts sind als Minutenameisen auf dem Erdenhaufen, wenn wir auch Ameisen mit Ordensbändern sind, Ameisen, die gehen und sitzen können! Es wird einem ganz grünschnabelig zumute neben diesen millionenjahralten, ehrwürdigen Gesteinen. Ich las am Neujahrsabend in dem Buch und hatte mich dermaßen darin vertieft, daß ich mein gewöhnliches Neujahrsvergrünen vergaß, nämlich 'Die wilde Jagd nach Amack', die kennen Sie sicher nicht!
Der Ritt der Hexen auf dem Besenstiel ist bekannt genug, der geht in der ersten Mainacht zum Brocken, aber wir haben auch eine wilde Jagd, die ist einheimisch und neuzeitig, die geht nach Amack in der Neujahrsnacht.
Alle schlechten Poeten, Poetinnen, Musikanten, Zeitungsschreiber und künstlerischen Notlabilitäten, die, welche nichts taugen, reiten in der Neujahrsnacht durch die Luft nach Amack hinaus; sie sitzen rittlings auf ihren Pferden oder Federkielen, Stahlfedern tragen sie nicht, die sind zu steif. Ich sehe das, wie gesagt, in jeder Neujahrsnacht, die Mehrzahl von den Reitern könnte ich beim Namen nennen, aber ich möchte doch nicht ihre Feindschaft auf mich laden, sie lieben es nicht, daß die Leute von ihrer Amackfahrt auf Federkielen etwas erfahren. Ich habe eine Art Nichte, die Fischweib ist und, wie sie sagt, drei geachteten Zeitungsblättern die Schmäh- und Schimpfwörter liefert; sie ist selber dort auf Amack als geladener Gast gewesen, sie wurde hinausgetragen, sie selber hält keinen Federkiel und kann nicht reiten. Die hat es erzählt. Die Hälfte von dem, was sie sagt, ist Lüge, aber die andere Hälfte unterrichtet uns zur Genüge. Als sie draußen war, begannen sie die Festlichkeiten mit Gesang, jeder der Gaste hatte sein Lied geschrieben, und jeder sang auch sein eigen Lied, denn das Lied war das beste, alles war eins, alles dieselbe Melodie. Darauf marschierten in kleinen Kameradschaften diejenigen auf, die nur mit dem Maulwerk tätig sind, als da sind die Glockenspiele, die wechselweise singen; darauf kamen die kleinen Trommelschläger, die in den Familienkreisen austrommeln. Bekanntschaft wurde mit denjenigen gemacht, die da schreiben, ohne daß sie ihren Namen dazu hergeben, das heißt hier so viel wie diejenigen, die Schmiere anstatt der Glanzwichse gebrauchen; da war der Büttel und sein Bursche, und der Bursche war der Schlimmste, denn sonst beachtet man ihn nicht; da war auch der gute Straßenkehrer mit seinem Karren, der den Kehrichtkübel umstülpt und ihn »gut«, »Sehr gut«, ausgezeichnet« nennt. Und in all dem Vergnügen, das schon die Zusammenkunft gewähren mochte, schloß aus der großen Aasgrube auf Amack ein Stengel, ein Baum, eine ungeheure Blüte, ein großer Erdpilz, ein ganzes Dach hervor, das war die Schlaraffenschlange der geehrten Versammlung, an der alles hing, was sie während des alten Jahres der Welt geschenkt hatte; aus dem Baum sprühten Funken wie Feuerflammen, das waren all die von andern entliehenen Gedanken und Ideen, die sie benutzt hatten und die nun sich lösten und dahinfuhren, ein ganzes Feuerwerk. Man spielte »der Prügel brennt«, und die kleinen Poeten spielten »das Herz brennt«; die Witzigen witzelten, und die Witze rollten donnernd dahin, als schlüge man leere Töpfe an den Türen entzwei. Es war höchst vergnüglich, sagte meine Nichte; eigentlich sagte sie noch vieles, was aber sehr maliziös, aber auch sehr amüsant war – ich sage es nicht wieder, man soll ein guter Mensch und kein Räsoneur sein. Sie werden indes wohl einsehen, daß wenn man wie ich einmal Bescheid über das Fest draußen auf Amack weiß, es natürlich ist, daß man jede Neujahrsnacht aufpaßt, damit man die wilde Jagd dahinfahren sieht; vermisse ich in einem Jahr einzelne, die früher dabei waren, so sind wiederum neue hinzugekommen, aber dieses Jahr versäumte ich es, mir die Gästen anzusehen, ich rollte davon auf den Gesteinen, rollte dahin durch Millionen von Jahren und sah die Steine sich losreißen hoch oben im Norden, sah sie auf den Eisschollen umhertreiben, lange bevor die Arche Noah gezimmert ward, sah sie auf dem Meeresgrund hinabsinken und wieder auftauchen mit einer Sandbank, die aus den Gewässern emporragte und sagte: »Dies soll Seeland sein!« Ich sah sie die Heimat von Vögeln werden, die wir nicht kennen, bis endlich die Axt ihre Runenzeichen in ein paar von den Steinen hieb, die alsdann in die Zeitrechnung hineingerieten, aber ich war dabei aus aller Zeitrechnung herausgeraten und ganz und gar zu null und nichts geworden. Da fielen drei, vier herrliche Sternschnuppen, die klärten wieder auf, gaben den Gedanken einen anderen Schwung: Sie wissen doch, was eine Sternschnuppe ist? Die Gelehrten wissen das sonst nicht! Ich habe nun so meine eigenen Gedanken vom Sternschuß, wie der gemeine Mann die Sternschnuppen in vielen Gegenden nennt, und ich gehe von folgendem aus: wie oft wird nicht im geheimen Dank und Segen jedwedem gespendet, der etwas Schönes und Gutes ausgerichtet hat, öfter ist der Dank lautlos, aber er geht nicht verloren! Ich denke mir, er wird vom Sonnenschein aufgefangen, und der Sonnenstrahl bringt den stillempfundenen, verborgenen Dank über das Haupt des Wohltäters; ist es ein ganzes Volk, welches durch die Zeiten seinen Dank sendet, ja, dann erscheint der Dank als ein Blumenstrauß, fällt als eine Sternschnuppe auf das Grab des Wohltäters herab. Mir ist es in der Tat ein großes Vergnügen, wenn ich eine Sternschnuppe, namentlich in der Neujahrsnacht, erblicke und dann herausfinden, wem wohl der Dankesstrauß gelten mag. Letzthin fiel eine leuchtende Sternschnuppe im Südwest: ein Danksagen an viele, viele! Wem mochte die Sternschnuppe wohl gelten? Die fiel gewiß, dachte ich, auf den Abhang an dem Flensburger Meerbusen, wo der Danebrog über die Gräber Schleppergrells, Lässoes und deren Kameraden weht. Eine fiel auch mitten ins Land hinein, fiel auf Sorö herab, ein Strauß auf Holbergs Ruhestätte, eine Danksagung des Jahres von gar vielen, Dank für die herrlichen Komödien!
Es ist ein großer, ein freudiger Gedanke, zu wissen, daß eine Sternschnuppe auf unser Grab herabfällt; auf das meinige fällt nun freilich keine, kein Sonnenstrahl bringt mir eine Danksagung, denn hier ist nichts des Dankes wert! Ich bringe es nicht zu Glanzwichse«, sagte Ole, »mein Los auf Erden ist nun einmal Schmiere.«