Da halfen die beiden Alten ihm vorsichtig auf die Erde herunter und baten das Junge, sich gut im Grase zu verstecken und nur ja nicht zu schreien, damit der Fuchs seine Anwesenheit nicht bemerkte. Und von nun an brachten sie ihm täglich mehr als hundertmal Futter, und der junge Vogel wuchs immer mehr. Allmählich entwickelten sich auch seine Flügel- und Schwanzfedern, so daß er quer über die Wiese flattern konnte; die Eltern mußten oft nach ihm suchen und ihn rufen, wenn sie mit Futter beladen zurückkehrten. Es sah gar sonderbar aus, wenn die drei beisammen saßen; denn das Junge war jetzt doppelt so groß wie das Neuntöterpärchen, so daß es nicht ganz einfach war, ihm das Futter in den Schnabel zu stecken. Außerdem war es ganz graubraun gefärbt, mit hellen Flecken auf Brust und Bauch.
Gar oft saß der Neuntötervater nachdenklich da und starrte den großen Vogel an.
„Familienähnlichkeit hat er gar nicht,“ sagte er dann wohl zu seiner Frau, die im Halbschlummer hockte; so müde war sie. „Wir sind nicht so groß und haben auch eine andre Färbung.“
Eines Morgens schnappte das Junge nach einer großen, garstigen, zottigen Larve, die im Grase umherkroch.
„Spuck’ sie aus! Spuck’ sie aus!“ schrie die Mutter. „Sie ist giftig! Sie kann dir den Tod bringen!“
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„Solche Larven habe ich schon oft gegessen,“ erwiderte das Junge ganz ruhig. „Sie schaden mir nichts; und von dem, was ihr mir gebt, kann ich nicht satt werden.“
„Ein merkwürdiger Neuntöter,“ erklärte der Vater und schüttelte den Kopf.
„Es ist gar kein Neuntöter,“ sagte da auf einmal jemand ganz in der Nähe.
Das Männchen blickte auf und gewahrte ein altes Zaunkönig-Mütterchen, das sich auf einem Zweige schaukelte.
„Was ist es nicht?“ fragte er.
„Es ist gar kein Neuntöter,“ wiederholte der Zaunkönig.
„Was? Hat meine Frau nicht selbst das Ei in unser Nest gelegt, und haben wir das Junge nicht ehrlich und redlich zusammen mit seinen Geschwistern, die jetzt tot sind, erzogen?“
„Sind sie tot?“ fragte der alte Zaunkönig. „Herr Gott! Ja, so geht es! Es ist die alte Geschichte und obendrein eine überaus häßliche Geschichte.“