Brummelnd, sehr verdrießlich und doch recht mittagshungrig traten die Kinder den Heimweg an. Der Nachtwächter tat, als bemerkte er ihren Ärger gar nicht, er ging stolz voran. Daß er dem Vogel Respekt eingeblasen hatte, befriedigte ihn ungemein; wie ein rechter Held kam er sich vor. –
Muhme Lenelies' Pflegesohn saß an diesem stillen Sommertag höchst vergnügt unter einer alten Eiche und gab auf seine Herde acht. Sonderlich schwer machten es die fünf Kühe und drei Ziegen ihrem Hüter nicht, sie in Ordnung zu halten, und der Bube war wieder einmal recht der Traumfriede, er träumte mit offenen Seite 186Augen wundervolle Dinge. In den Zweigen des Baumes rauschte es, und dem Buben war es, als flüsterten die leise aneinanderschlagenden Blätter ihm allerlei seltsame Geschichten zu. Der Herr Lehrer hatte den Kindern in der Schule von den alten Germanen erzählt, die im heiligen Eichenhain dem Gott Donar geopfert hatten, und von diesen längst vergangenen Tagen rauschte und raunte es in dem alten Baum, von den Helden, die einst in seinem Schatten von ihren Kriegstaten berichtet und die Schädel der geopferten Kriegsrosse am Stamme befestigt hatten. Aber auch von Elfen und Waldweibchen flüsterte es, von Sommernächten, in denen hier auf weichem Wiesengrund sich ein lustiges Märchenvolk im Tanze drehte. Aus diesen Träumen schrak der Bube plötzlich empor. Über ihm rief eine schnarrende Stimme: „Schafskopp, gib mir ein Küßchen, hahaha, gib mir ein Küßchen!“ Friede faßte sich unwillkürlich an seine Nase und zog kräftig daran, – träumte oder wachte er?
„Mach die Tür' zu, mach die Tür' zu!“ kreischte es da wieder, und nun sprang Friede doch auf und sah sich um. In dem Gezweig der Eiche saß ein blaugrüner Vogel, der mit schief gehaltenem Kopf den Buben sehr prüfend ansah. Friede mußte an das Märchen vom blauen Vogel des Glücks denken, das Muhme Lenelies ihm erzählt hatte. War das nun ein Glücksvogel? Er Seite 187faßte sich wieder an die Nase: nein, er war doch wach und träumte nicht mehr, und der Wundervogel gehörte ins Märchenland, also mußte das wohl hier doch ein anderer sein. Nun sah der Bub aber auch die feine, goldene Kette, die von dem Fuß des Vogels herabhing. Gewiß war der Vogel irgendwo ausgerissen. „Lola hat Hunger, Hunger,“ kreischte der Vogel und schlug mit den Flügeln, als wollte er davonfliegen. Friede besann sich nicht lange. Er nahm rasch sein Brot aus dem Sack, zerbröckelte ein Stück und streute es für den seltsamen Gast hin. Der besah sich etwas erstaunt die Sache, hüpfte aber doch auf einen niedrigen Ast, legte den Kopf auf die andere Seite und schien sich zu überlegen, ob die Mahlzeit wohl für ein so vornehmes Tier gut genug sei. In diesem Augenblick griff Friede rasch nach der Kette und zog daran den Vogel vom Baum. Der war erst so verblüfft, daß er sich ruhig greifen ließ, plötzlich aber besann er sich und hackte wütend nach Friedes Hand. „Au!“ schrie der Bube laut, hielt den Vogel aber trotz des heftigen Schmerzes fest und steckte den zappelnden und laut „Schafskopp“ schimpfenden Gesellen kurz entschlossen in seinen Rucksack. Da war der Herr Papagei gefangen; es half ihm nichts, daß er schnarrte: „Schafskopp, Schafskopp, mach die Tür' zu, mach die Tür' zu!“