Agathe Apfelkern saß gespannt auf ihrem Platz und konnte es kaum erwarten, das lang ersehnte Abschlusszeugnis in den Händen zu halten. Fünf Jahre lang hatte die Schulbank gedrückt, Kräuterkunde studiert und Zaubersprüche auswendig gelernt. Auch der richtige Umgang mit dem Zauberstab war ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Schon in wenigen Minuten würde sie ihr Abschlusszeugnis in Händen halten. Dazu würde man ihr ihren ersten eigenen Zauberstab überreichen.
»Agnes Alabaster.« Der Professor rief die erste Schülerin zu sich. Er schüttelte ihr die Hand und übergab das begehrte Diplom. »Willkommen im Kreis der Hexen. Ich wünsche dir viel Erfolg in der Anwendung der dunklen Künste.«
Der Professor sah auf seinen Zettel, blickte in die Runde und nickte. »Agathe Apfelkern.« Sie stand sofort auf und wollte zum Pult rennen, obwohl das alles andere als angemessen gewesen wäre, wurde dann aber direkt ausgebremst. »Für dich habe ich leider kein Zeugnis. Es tut mir leid.« Er seufzte leise. Die Enttäuschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. »Ich weiß, dass du nicht verstehst, warum. Du warst immerhin in allen Fächern die beste Hexenschülerin und hast nur Einser bekommen. Keine andere war an unserer Schule so erfolgreich, wie du es bist. Und doch fehlt dir etwas ganz Wichtiges. Du bist keine von uns. Die dunklen Künste magst du beherrschen, aber sie sind so weit von dir entfernt, wie ein Floh vom Mond.«
Nun seufzte auch Agathe. Sie war traurig, auch wenn sie es tief in ihrem Innern schon immer gespürt und gewusst hatte. Sie sah sich um. Auf jedem Stuhl saß eine junge Hexe in einem schwarzen Umhang und mit schwarzem Hut. Sie selbst aber war von Kopf bis Fuß voller Farben. Ihre Kleidung war so bunt, wie Agathes Herz und Seele.
»Du wirst eines Tages eine ganz besondere Hexe werden, da bin ich mir sicher.« Der Professor legte das wärmste Lächeln auf, zu dem er fähig war. »Aber du gehörst nicht zu unserem Hexenkreis. Ich bin mir trotzdem sicher, dass du deinen Platz in dieser Welt finden wirst.«
Agathe Apfelkern wusste nicht, was sie denken, was sie sagen sollte. Sie war innerlich zu sehr aufgewühlt. Wortlos verließ sie nicht nur den Klassenraum, sondern auch zum letzten Mal die Schule.
Während sie die großen Stufen zur Straße hinab schritt, fiel ihr Blick auf ein kleines Kätzchen, das zitternd in einer Baumkrone saß. »Oh nein. Es kommt allein nicht mehr herunter.« Agathe wollte zum Zauberstab greifen, doch da fiel ihr ein, dass sie keinen bekommen hatte. Das Kätzchen wankte, konnte sich nicht mehr halten und stürzte ab. Die Hexe streckte ihre Hände aus und hielt das kleine Tier so lange auf, bis sie über die Straße gegangen war und es aus der Luft pflücken konnte.
Die Zauberei hatte teils neugierige, teils erschrockene Augen auf sich gezogen. Ein Kind auf einem Fahrrad kam vom Weg ab und stürzte vor eine Kutsche. Agathe wirbelte herum. Wie mit einem unsichtbaren Seil zog sie es wenige Zentimeter vor den Pferdehufen zur Seite.
Von sich selbst überrascht, blickte die Hexe auf ihre Hände. »Aber wie ist das denn möglich? Ich besitze keinen Zauberstab, sollte also keine magischen Kräfte nutzen können.« Sie sah auf und entdeckte den Professor, der ihr vom Fenster aus lächelnd zunickte. »Ich habe es dir prophezeit, Agatha Apfelkern. Du wirst deinen Platz finden. Du bist eine gute Hexe und wirst den Lebewesen in deinem Umfeld helfen, wo du nur kannst. Ich wünsche dir dafür alles Glück der magischen Welt.«
Agathe grinste. Ja, eine gute Hexe zu sein, das würde sie wirklich glücklich machen.