Betty war ein kleines Mädchen, die einzige Tochter einer armen Witwe.
Die Witwe hatte nur ein ärmliches Häuschen und zwei Ziegen, und Betty mußte diese zwei Ziegen täglich in dem Birkenwalde weiden, da die Mutter keine Wiese besaß.
Jeden Morgen nahm Betty ein Körbchen mit Brot, und eine Spindel, und ging fort mit ihren Ziegen; und jeden Morgen rief ihr die Mutter nach:
»Die Spindel muß diesen Abend voll sein!«
Betty ging immer munter fort, und als sie in den Wald kam, ließ sie die Ziegen weiden, und spann fleißig, bis die Mittagsstunde herankam. Dann aß sie ihr Brot, suchte einige Wald-Erdbeeren, und tanzte lustig einige Minuten, ehe sie das Spinnen wieder aufnahm.
Eines schönen Sommertages, nachdem sie gegessen, und gerade als sie ihren Mittagstanz begonnen, sah sie ein wunderschönes Mädchen im weißen Kleide vor sich stehen.
Das Mädchen hatte langes, goldenes Haar, und darauf war ein Kranz von Waldblumen. Betty war sehr erstaunt dieses Mädchen zu sehen, doch als diese sie fragte, ob sie gern tanze, vergaß sie alle Furcht und antwortete fröhlich:
»Ach ja! ich tanze so gern, daß ich den ganzen Tag nichts anderes thun möchte!«
»Das ist gut!« rief das schöne Mädchen. »Ich tanze auch gern. Kommen Sie, wir wollen zusammen tanzen!«
Sie nahm Betty bei der Hand, und bald gingen sie lustig im Kreise herum, und Betty tanzte so leicht, und wurde weder müde noch außer Atem, denn die kleinen Vögel kamen alle und sangen lustige Tanzmusik.
Betty vergaß alles in ihrer Tanzlust, und erst als die Sonne am Horizonte heruntersank, die Vögel fortflogen und das Mädchen aufhörte zu tanzen, dachte sie an ihre Ziegen und an ihre unvollendete Arbeit.
Das Mädchen mit den goldenen Locken war plötzlich verschwunden, und Betty war wieder ganz allein in dem Birkenwalde mit ihren Ziegen. Es war Zeit nach Hause zu gehen, und Betty packte ihren ungesponnenen Flachs und die Spindel, die nicht halb voll Faden war, in das Körbchen, und brachte die Ziegen nach Hause. Sie war aber so reuig, so lange getanzt zu haben, daß sie nicht wie gewöhnlich laut singen konnte, und die Mutter fragte, ob sie vielleicht krank sei.
»Nein, Mutter, ich bin nicht krank!« erwiderte Betty. Sie steckte Spindel und Flachs ein und dachte bei sich selbst:
»Es ist gut, daß die Mutter den Faden nicht sogleich windet. Morgen muß ich sehr fleißig sein und viel spinnen, denn heute bin ich sehr träge gewesen!«
Am folgenden Morgen ging Betty wieder in den Birkenwald mit ihren Ziegen, und spann fleißig bis Mittag, dann aß sie ihr Stück Brot, pflückte schnell einige Erdbeeren, und schickte sich soeben zu einem kurzen Tanze an, als das goldlockige Mädchen plötzlich wieder erschien, und sie wieder zum Tanze aufforderte.
»Schönes Fräulein,« sagte Betty. »Sie müssen mich heute entschuldigen. Ich kann nicht mit Ihnen tanzen, denn ich muß viel spinnen, sonst wird meine Mutter böse!«
»Ach, liebes Kind, kommen Sie nur, tanzen Sie nur getrost mit mir, das Spinnen werde ich besorgen.«
Und das schöne Mädchen faßte sie bei der Hand, und tanzte wieder lustig mit ihr im Kreise herum, während die Vöglein alle die schönste Tanzmusik sangen.
Sie tanzten so unermüdlich von Mittag an, bis es beinahe Zeit zum Sonnenuntergang war. Da hielt das Mädchen plötzlich inne, und jetzt dachte Betty wieder zum erstenmal an ihren ungesponnenen Flachs und weinte bitterlich.
»Weinen Sie nicht, mein Kind,« rief das schöne Mädchen. »Ich will das schon besorgen.«
Sie nahm die Spindel und spann so blitzschnell, daß aller Flachs gesponnen war, als die Sonne am Horizonte hinunterging.
»Da, mein Kind,« rief sie freudig. »Sehen Sie nur, die Spindel ist ganz voll!«
Mit diesen Worten reichte sie Betty die Spindel. Dann verschwand sie plötzlich, und nun ging Betty glücklich singend nach Hause. Da fand sie ihre Mutter in sehr böser Laune, denn sie hatte den Faden winden wollen, und hatte die halb volle Spindel gefunden. Sie schalt das Kind und sagte:
»Betty, du bist ein faules Kind. Gestern hast du deine Spindel nicht voll gesponnen.«
»Ja, Mutter,« erwiderte sie entschuldigend, »gestern habe ich zu lange getanzt, aber siehe, heute ist meine Spindel voll prächtigen Fadens!«
Die Mutter sah die volle Spindel an und schalt nicht mehr.
Am dritten Morgen ging Betty wieder in den Wald mit Ziegen und Spindel, spann wieder fleißig den ganzen Morgen, und aß ihr Mittagsbrot und Erdbeeren wie gewöhnlich. Als sie sich zum Tanzen schickte, kam das schöne Mädchen plötzlich wieder und sagte freundlich:
»Kommen Sie, Betty, wir wollen wieder zusammen tanzen!«
Sie tanzten lustiger als je, eine Stunde nach der anderen, und fühlten keine Müdigkeit, so lange die kleinen Vögel fröhliche Tanzmusik sangen.
Endlich hörten die Vögel auf zu singen und die Mädchen zu tanzen, und Betty rief wieder traurig:
»Ach, da geht die Sonne schon unter, und meine Arbeit ist nicht fertig! Meine Mutter wird tüchtig schelten! Sie wird wieder sagen, daß ich träge gewesen sei!«
»Nein, liebes Mädchen, Ihre Mutter soll Sie nicht schelten. Ich will Ihnen helfen. Geben Sie mir Ihren Korb!«
Das schöne Mädchen nahm den Korb, ging weiter in den Wald hinein, und kam bald damit wieder:
»Da, Betty,« sagte sie. »Ich habe etwas in Ihren Korb gelegt, das die Mutter entschädigen wird für den Faden, den Sie heute nicht gesponnen haben. Öffnen Sie den Korb erst, wenn Sie nach Hause kommen!«
Das schöne Mädchen verschwand wieder, und Betty ging nach Hause. Unterwegs dachte sie:
»Mein Korb ist eben so leicht, als ob er leer wäre. Es kann ja unmöglich etwas darin sein!«
Sie konnte nicht warten, bis sie nach Hause kam, um den Deckel ein wenig zu heben, sah aber nichts als dürre Birkenblätter!
Da fing sie an zu weinen, warf zwei Hände voll Birkenblätter aus dem Korbe, und ging traurig nach Hause.
Als sie dorthin kam, rief ihre Mutter laut:
»Ums Himmelswillen, Kind, was ist los mit der Spindel, die du mir gestern heimgebracht hast? Sie ist sicher verhext, denn ich habe heute den ganzen Tag gewunden, und der Faden kam nicht zu Ende, bis ich laut rief: ›Ein böser Geist muß dies gesponnen haben!‹«
Dann erzählte Betty ihrer Mutter alles, was ihr in dem Birkenwalde begegnet war, und die Mutter sagte:
»Ach, das war eine Waldfrau, oder ein Moosweiblein! Sie sind gute Geister. Sie thun uns nichts zu leide, und wäre ich nur nicht ungeduldig gewesen, so hätte ich ein ganzes Zimmer voll Faden gehabt. Die Waldfrauen sind den guten Mädchen immer behülflich!«
Da dachte Betty: »Vielleicht hat sie noch eine Spindel Faden unter die dürren Blätter versteckt? Ich muß suchen!«
Wieder hob sie den Deckel des Korbes auf, und siehe, da waren statt dürrer Birkenblätter lauter schöne Goldmünzen.
»Ach Mutter, siehe doch diese schönen Goldmünzen an!« rief das entzückte Mädchen.
Die Mutter war auch entzückt und sagte:
»Es ist gut, mein Kind, daß du nicht alle Birkenblätter fortwarfst! Hier haben wir Gold genug, um uns ein kleines Gut zu kaufen!«