In dem Rathause der Stadt Zürich waren vor mehreren hundert Jahren die Ratsherren alle versammelt. Sie erwarteten eine Antwort aus Straßburg, dessen Rat sie ein Bündnis vorgeschlagen zum Schutz und Trutz gegen ihre gemeinschaftlichen Feinde.
Endlich erschien der Bote mit einem Briefe, den der Schultheiß (Präsident) sogleich laut vorlas wie folgt:
»Geehrte Herren von Zürich.
Wir bedauern, ihren Vorschlag, mit der Stadt Zürich in ein Bündnis zu treten, nicht annehmen zu können, da unsere Städte zu weit voneinander entfernt liegen, um sich im Falle der Not schnell genug Hülfe leisten zu können.«
Als die Züricher Ratsherren diese kalte Antwort auf ihr Anerbieten vernahmen, waren sie sehr ungehalten (böse) darüber, und berieten sich, um zu wissen, was nun zu thun sei.
Auf einmal rief der Jüngste unter ihnen aus: »Meine Herren, überlassen Sie mir die Sorge, den Straßburgern eine warme Antwort auf diese kalte Abweisung zu überbringen. Ich kann versprechen, daß es nicht lange dauern wird, ehe Sie eine ganz verschiedene (andere) Antwort erhalten werden.«
Die Ratsherren überließen die Sorge dieser Antwort ihrem jungen Mitgliede, der sogleich nach Hause eilte, und seiner Frau laut zurief:
»Liebe Frau, koche so schnell als möglich deinen größten Topf voll Brei!«
Die Frau ließ sogleich ein großes Feuer anmachen, und kochte einen ungeheuer großen Topf voll Brei.
Unterdessen eilte der junge Ratsherr zu der Limmat (ein kleiner Fluß) hinunter, ließ sein bestes Schiff zurichten, rief zehn starke junge Männer zu sich und befahl ihnen, bereit zu sein, um das Schiff die Limmat und Aare entlang und Rhein abwärts zu rudern.
Als das Schiff bereit war und die Jünglinge alle an ihren Plätzen waren, sagte der Ratsherr: »Jetzt sind Sie zum Aufbrechen ganz bereit, nicht wahr? Doch muß ich schnell nach Hause gehen, um etwas zu holen, aber sobald ich wieder zurück bin, müssen wir sogleich fort.«
Der Ratsherr lief schnell in seine Küche, wo seine Frau den Brei kochte.
»Ist der Brei fertig?« rief er hastig.
»Ja, ganz fertig,« erwiderte die Frau.
Auf einen Wink des Herrn nahmen zwei starke Diener den dampfenden Topf vom Feuer, und liefen schnell damit zum wartenden Schiff, wo sie ihn niedersetzten. Der Herr sprang in das Schiff, nahm selbst ein Ruder und rief laut:
»Jetzt, junge Leute, rudert so schnell als möglich, damit wir in Straßburg ankommen, noch ehe der Brei kalt ist. Wir wollen den Herren dort zeigen, daß die Züricher im Notfalle schnell genug ihren Verbündeten Hülfe leisten können!«
Die jungen Leute ruderten eifrig. Das Schiff flog die Limmat, Aare und Rhein hinunter, und in unglaublich kurzer Zeit kam es in Straßburg an.
Der Ratsherr sprang schnell aus dem Schiffe, winkte den zwei Dienern, ihm mit dem Breitopfe zu folgen, und ging eilig in das Rathaus, wo die Straßburger Ratsherren versammelt waren.
Ohne Aufenthalt trat er in den Saal, winkte den Dienern, den noch dampfenden Breitopf auf den großen Tisch zu setzen, und dann sprach er:
»Meine Herren, Sie haben das Züricher Bündnis nicht annehmen wollen, weil Sie unsere Städte zu weit entfernt dachten, um einander in der Not schnellen Beistand leisten zu können. Sie irren sich darin, die Züricher können Ihnen schnell genug Beistand leisten, das wird Ihnen dieser Breitopf am besten klar machen. Sehen Sie, meine Herren, dieser Brei wurde auf meinem Herd in Zürich gekocht, und dennoch ist er noch warm genug zum essen!«
Als die Straßburger Ratsherren den noch dampfenden Topf voll Brei sahen, schämten sie sich ein wenig ihrer kalten Antwort. Sie waren auch über den glücklichen Einfall des Ratsherrn höchst entzückt und riefen alle: »Freund, Sie haben ganz Recht. Das Bündnis soll geschlossen werden!«
Sie schrieben sogleich einen anderen Brief, welchen sie dem jungen Ratsherrn sogleich übergaben, aber als er fortgehen wollte, rief der Schultheiß:
»Warten Sie doch, Herr Ratsherr, wir wollen erst den Brei zusammen essen!«