Es war einmal ein kleines, flachshaariges Schusterjüngelchen, das die Dorfbuben den Pechhansel nannten, obwohl sein richtiger Taufnamen ein gar schöner war, nämlich Johannes. Vater und Mutter hatte er nicht mehr, die waren alle beide todt. Sein Vormund aber hatte ihn geschwind einsegnen lassen und zu dem Schuster von Gansdorf in die Lehre gethan, und ihm noch zum Valet und Angedenken an ihn eine wunderschöne Zieh-Harmonica mitgegeben, mit acht Klappen und drei Luftlöchern, denn er sollte ein ganzer Schusterjunge werden, und ohne die Harmonica wär' er doch nur ein halber gewesen. Trotzdem mochte ihn die Frau Meisterin nicht leiden, denn er war zuweilen ein bischen grob gegen sie; und den Herrn Meister konnte er wieder nicht ausstehn, denn der war grob gegen ihn, und wenn er einen Wasserstiefel verschnitten hatte oder einen Holzpantoffel, war der Meister nicht faul hinterher, machte ihm einen warmen Umschlag von Prügeln über den Rücken, und dann konnte man auf selbigem die vier russischen Nationalfarben schauen, nämlich braun und blau, und grün und gelb, und die Frau[18] Meisterin, die in der Küche stand, sagte ganz laut: Es muß immer noch besser kommen.
Hansel aber, wenn er wieder beim Leisten auf dem Schemelchen kauerte und die hellen Thränen ihm vor lauter Aerger immer noch aus den Augen liefen, dachte bei sich: Bin ich nicht ein schmucker Bursch, und zu Pfingsten werd' ich sechzehn Jahr alt? Und hören mich die Dorfmädel nicht für ihr Leben gern auf der Harmonica spielen? Soll ich mir immer noch den groben Haselstock auf dem Rücken tanzen lassen? Ja, Kuchen! schloß er jedesmal; aber es blieb dennoch beim Alten, denn draußen lag Weg und Steg verschneiet, und die Winde hielten ein Wettrennen und pfiffen dabei so arge Stücklein, daß einem alles Ausreißen verging. Da mußt' es Hansel denn aushalten bei dem Herrn Meister und der Frau Meisterin, obwohl es spitzigkalt war in seiner Kammer und in seinem Magen auch; denn Warmes, wenn's auch nur ein Süpplein gewesen wäre, bekam der Arme alle heilige Zeit einmal zu kosten. Warum war er auch grob zu der Frau Meisterin!
Wie es nun Frühling wurde, heizte ihm zwar die Sonne seine Kammer gar behaglich ein, und der Kirschbaum, der gerade davor stand, hing voll schneeweißer Blüten, aber mit der Frau Meisterin ihrer Kost sah's nicht besser aus. Das kam daher, daß ihr Mann statt des Pfriemen die Schaufel in die Hand nahm und auf sein bischen Acker ging, um die Saat zu bestellen. Denn[19] die Dorfleute stellten Schuh und Stiefel in den Kasten und gingen mit splitternackten Füßen umher in dem lieben Sonnenschein. Wer aber keine Schuh' trägt, zerreißt keine, und an dem hat der Schuster sein Recht verloren und des Schusters Hansel auch. Die Frau Meisterin aber dachte: Wozu füttern wir den Faulenzer? – Denn vom Ackern und Säen verstand er nichts, weil er aus der Stadt war, und wollte auch nichts anders sein, als ein ganzer Schusterjunge; das hatte ja auch der Vormund gewollt. Er lief also den ganzen Tag mit der Harmonica im Walde herum, suchte sich Beeren, so viel er fand, und wurde leidlich satt. Zuweilen saß er auch daheim und las. Nun war freilich nur ein einzig Buch im Hause, eine alte vergriffne Bibel nämlich; die fing er von vorn an, und die Bilder gefielen ihm über die Maßen, aber die Geschichten nicht minder.
Eines Tages aber, wie er über dem zweiten Buch Mose war, wurde er plötzlich ganz tiefsinnig und saß eine ganze Stunde und dachte nach. Dann klappte er das Buch zu, packte seine Siebensachen zusammen in ein Bündel und trat marschfertig in die Küche zur Frau Meisterin. Die machte ein verwundertes Gesicht, wie sie hörte, es gefalle dem Hansel nimmer bei ihr und er wolle fort und nach den Fleischtöpfen Aegypti wandern. Denn, sagte er, das ewige Beeren-Essen bringt einen ganz von Kräften, Frau Meisterin, und Ihre Brotrinden und Kartoffeln haben mich auch nicht fett gemacht, daß Sie's nur weiß! Adjes also, und empfehl' Sie mich dem Meister. – Damit machte er[20] linksum Kehrt und stapelte was er nur konnte zum Hause hinaus und das Dorf hinab, daß die Hühner und Gänse kaum Zeit genug hatten, ihm Platz zu machen. Denn er hatte Angst, daß der Meister ihn einholen möchte und seine Glieder so zurichten, daß damit nichts anzufangen wäre, am wenigsten eine Reise nach den Fleischtöpfen Aegypti.
Der Meister kam aber nicht, sondern ein Dirnlein über dem andern. Denn wie sie den Hansel reisefertig vorbeimarschieren sahen, hielten sie's nicht aus drinnen, ließen alles stehn und liegen und liefen ihm nach; denn sie wollten ihn gar zu gern noch einmal spielen hören. Kommet nur mit bis ins Wäldchen, sagte er; hier darf ich nicht, sonst hört mich der Meister; denn er soll's nicht wissen, daß ich nach den Fleischtöpfen Aegypti wandere. Jesus! riefen die Mägdlein, so grausam weit! Der Hansel aber machte eine wichtige Miene und sagte: Am Ende noch weiter, in die Türkei oder nach den Buschmännern. Die Welt soll schon noch von mir zu hören kriegen! – Da kicherten die Mädchen unter einander und flüsterten: Der Hansel ist irre; er wird Tollbeeren geschluckt haben!
Wie sie nun im Wäldchen waren, lehnte er an einen Baum, nahm die Harmonica aufs Knie und fingerte ihnen einen Hopser vor, daß sie's Tanzen nicht lassen konnten, sondern einander umfaßten und immer um die Bäume herum durch Dick und Dünn zu springen anhoben. Als sie endlich alle müde waren, kamen sie gelaufen und baten[21] ihn noch um was Schmachtendes. Da spielte er das schöne Lied: »Du du liegst mir im Herzen«, und das war so sehnsüchtig und jeder Ton zitterte fünf Minuten lang, daß die Vögel in den Büschen ganz still wurden und schluchzten und seufzten. Die Mägdlein aber waren noch mehr gerührt, gaben dem Musikanten jede einen schönen Kuß und gingen mit den Schürzen vorm Gesicht heim. Hansel aber brach einen blühenden Zweig ab, steckte ihn auf die Mütze zur Erinnerung und sang und spielte im Weitergehen:
Zu Halle an der Saale
Da hat mir's nit gefalle,
Weil da der arme Handwerksbursch
Gar zu viel leiden muß
Von wegen den Herrn Studiosibus.
Nachher jedoch ließ er das Singen, und pfiff lieber; denn er wollte ein ganzer Schusterjunge sein, und die pfeifen bekanntlich.
Wie er nun aus dem Wäldchen wieder herauskam auf die große Landstraße, stand er auf einmal still und hörte mitten in einer Melodie auf. Zum Kuckuk! dachte er, bin ich doch ein rechter Holzleisten! Laufe da weg und weiß den Weg nicht. Geht's nun rechts oder links? Nach einigem Besinnen ging er doch links; denn rechts mußte man nach der Stadt gelangen, wo der Vormund wohnte, und da wäre er mit dem Wandern schön angekommen. Also wandte er sich links, spielte das Lied gerade da weiter,[22] wo er aufgehört hatte, und die Grillen und Frösche zu beiden Seiten des Weges sangen zweite und dritte Stimme, daß den Lerchen droben vor dem Concert angst und bange wurde.