Weit, weit hinter den Wolkenbergen, da, wo der Sonne Heimat ist, die zu verlassen ihr so schwer fällt, daß sie Tauthränen weinen muß, da, wo gut sein, fromm sein ist, und die Religion die Liebe, da, wo es keinen Neid, keine Polizei und keine Geldnöten gibt, da ist das Reich der Träume, das Wunderland, wo die schöne Frau Phantasie als Königin herrscht. Da sitzt sie auf ihrem goldenen Sonnenthron, umgeben von all' dem lustigen und luftigen Volk, den Elfen, Nixen und Kobolden, die durch das Christentum und das Geld aus der Welt vertrieben wurden, und hält Hof, und die Blümelein sind ihre Vasallen und die Bäume ihre Schildwachen, und die Vögelein jubilieren und konzertieren, und die Mücken und Grillen und Heimchen tanzen Ballett; und der Wind, der säuselnde, sanfte, der starke, stürmische, immer gewaltige Sänger, ist zum Hofpoeten ernannt. Aber die mitleidige Königin, so gut sie es auch in ihrem wonnigen Traumland hat – sie ist nimmer zufrieden damit. –
Sie gedenkt ihres Sorgenkindes, der Welt, die ihr schon manch' bitteres Weh bereitet hat, sie hüllt sich in ihren blauen Himmelsmantel, mit goldenen Sternlein besäet, und fliegt mit geheimnisvoll leisem Flügelschlag über die Erde, und wenn sie sieht, daß ihr Sorgenkind immer noch so verdrießlich und wetterwendisch und eigensinnig-dumm und boshaft und lieblos ist, dann fließen Thränen der Wehmut und des Zornes und des Mitleids aus ihren schönen Augen, vermischt mit Hoffnungsbalsam und Sehnsuchtslauten nach ihrem Traumland, und diese kostbaren Thränen fallen zur Erde hinunter in die Herzen ahnungsvoller Menschen, die von Liebe entbrennen zur herrlichen Göttin Phantasie; sie singen dann, was ihr Herz bewegt, und die Welt nennt sie Dichter.
Aber Frau Phantasie verhüllt sich mit ihrem blauen Himmelsmantel, so daß nur die kleinen nackten Füßchen wie zartrosa Wölkchen darunter hervorgucken, der Wind nimmt sie auf seine Flügel und trägt sie in ihr Königreich, und dann geht die Sonne auf.
Lange schon ist es her, daß die Königin ihre letzte Reise unternommen hat; sie hat über den Wolken gethront im Traumland; aber Wehegeschrei und Kanonendonner sind bis zu ihr hinaufgedrungen und Zornesrufe nach Freiheit und Fluchworte gegen Lüge und Heuchelei, und dann wurde es ruhig, ganz ruhig unter ihr – da erhob sie sich von ihrem Thron, legte die weiße Hand gegen das rosige Ohr, lauschte in die Ferne, und sie sprach zu ihrem versammelten Volke:
»Horch, so friedlich ist's da drunten! Sollte wohl jetzt die Zeit gekommen sein, wo ich meine Lieblinge hinaussenden kann, auf daß sie der Welt Erlösung bringen? Meine Kinder, meine weißen, süßen, unschuldigen Kinder: Wahrheit und Liebe, die ich mit dem Sonnengott, dem ewigen Licht, gezeugt; sie schlummern unter Blumen nun seit vielen tausend Jahren und immer wollte ich sie wecken und immer noch war es zu früh; immer begann es wieder zu lärmen auf der Welt, wenn ich gerade mich niederbeugen wollte, um sie wachzuküssen – die beiden Zwillingsrosen. Nun aber ist's Zeit.
Geschwinde, Ihr lustiges Volk, geschwinde, Ihr meine Treuen – kommt, kommt, laßt sie uns wecken!«