Irgendwo im Herzen unseres schönen Landes gab es zwei Städte. Diese beiden waren so klein, dass man sie nur in der jeweils anderen kannte. Das lag daran, dass beide mit einer Eisenbahnlinie verbunden waren. Zwischen Altenburg und Neuenstadt verlief ein einzelnes Gleis auf dem den ganzen Tag ein Zug, von früh bis spät, hin und her fuhr. Morgens brachte er die Menschen zur Arbeit und abends holte er sie wieder ab. So ging es das ganze Jahr.
Da mochte man sich denken, dass es doch sehr langweilig war, immer nur auf der gleichen Strecke, tagein, tagaus, fahren zu können, und immer das Gleiche sehen zu müssen. Aber für Lukas war es der schönste Beruf, den er sich vorstellen konnte.
‚Wer ist denn Lukas’, magst du dir jetzt vielleicht denken. Lukas war die kleine Dampflok, die auf der Fahrt zwischen den beiden Städten die schweren Waggons über die Schienen zog. Aber das machte ihm gar nichts aus, denn er freute sich immer, wenn er an seinen Freunden vorbei fuhr. Er kannte jeden Busch und jeden Baum. Mit jedem der Felsen war er per du. Und die meisten seiner Fahrgäste grüssten ihn, bevor sie einstiegen. Und so erfüllte er jeden Tag seine Aufgabe mit großer Begeisterung und die Menschen freuten sich auf eine Fahrt mit ihm, wenn sie Lukas heran schnaufen hören konnten.
Eines Tages, es war ein Sonntag Morgen, kam ein Mann zur kleinen Lok in den Schuppen, denn sonntags hatte Lukas immer frei. Der Mann richtete ihm Grüße von den beiden Bürgermeistern von Altenburg und Neuenstadt aus. Außerdem baten sie ihn am Nachmittag zum Bahnhof zu kommen.
Das machte Lukas natürlich sehr neugierig. Er wusste nämlich nicht worum es ging. Da es aber bis dahin noch einige Stunden dauern sollte, blieb ihm nichts anderes übrig als zu warten.
Doch dann kam der Nachmittag. Die kleine Dampflok fuhr zum Bahnhof hinüber und wunderte sich sehr, denn es standen sehr viele Menschen am Bahnsteig. So viele waren dort noch nie zur gleichen Zeit gewesen.
Lukas hielt an und wartete gespannt, was nun wohl passieren würde, als die beiden Bürgermeister nach vorne traten und einer der beiden das Wort ergriff.
„Lieber Lukas. Schon seit vielen Jahren leistest du unseren beiden Städten treue Dienste, indem du jeden Tag den Zug hin und her ziehst, alle Menschen zur Arbeit bringst und am Abend wieder abholst.
Heute soll der Tag sein, an dem wir alle zusammen einmal zu dir Danke sagen wollen. Und dafür haben wir uns etwas ganz besonderes überlegt. Denn ab heute brauchst du nicht mehr die schweren Waggons hinter dir her ziehen. Ab jetzt hast du jeden Tag frei.“
Bei diesen Worten gingen die beiden Bürgermeister an Lukas vorbei zu einem großen Etwas, das sich unter einem riesigen Bettlaken versteckte. Gemeinsam zogen sie den Stoff beiseite und präsentierten den wartenden Leuten eine große Diesellok. Sie war viel größer als Lukas und sah auch viel kräftiger aus.
„Das hier ist Arno. Er wird dich ab jetzt ablösen und den Zug hin und her ziehen, lieber Lukas.“
Die herum stehenden Menschen klatschten vor Begeisterung laut mit ihren Händen und drängelten sich anschließend schnell in die Waggons für eine Testfahrt. Denn jeder wollte beim ersten Mal dabei sein. Einen kurzen Augenblick später warf Arno einen kalten Blick auf Lukas.
„Jetzt bin ich hier der Boss, Kleiner.“
Dann zog die große rote Lok mit all den Menschen los und ließ die kleine Dampflok allein am Bahnhof zurück.
Am nächsten Morgen rollte die kleine Dampflok wie gewohnt zum Bahnhof. Doch dort stand bereits Arno und war gerade dabei die letzten Fahrgäste in die Waggons zu scheuchen.
„Hey, Kleiner, was willst du denn hier? Du hast ausgedient. Fahr schön zurück in deinen kleinen Schuppen und lass dich vom Staub berieseln.“
Er sah Lukas böse an, lachte laut und fuhr dann Richtung Neuenstadt davon.
Lukas wurde sehr traurig. Alle hatten ihn vergessen und wie viel Spaß es ihnen gemacht hatte beim Zugfahren das gemütliche Schnaufen hören zu können.
Nun waren alle Menschen in Eile. Arno trieb sie richtig an, als wenn er Angst hätte durch seine Fahrgäste unpünktlich werden zu können.
Die kleine Dampflok hätte dicke Krokodilstränen geweint, wenn sie es nur gekonnt hätte. Mit schwerem Herzen fuhr sie wieder zurück in den kleinen Schuppen, lies sich langsam vom Staub bedecken und nahm sich vor, nie wieder heraus zu kommen.
So verging viel Zeit. Die Leute hatten Lukas inzwischen vergessen, und er selber hatte sich mit seinem Schicksal abgefunden, denn er hörte jeden Tag durch die Schuppentore das Brummen der Diesellok.
Doch eines Tages war da etwas anderes. Draußen auf dem Bahnsteig waren viele Kinder, denn die Grundschule machte einen Ausflug hierher. Die Schulklasse und ihre Lehrerin durften sich den Bahnhof anschauen. Bei ihnen war ein netter Lokführer, der alles erklärte, jede Frage beantwortete und die Kinder nach und nach mit in die Fahrerkabine von Arno mitnahm, damit sie alles einmal aus der Nähe anschauen konnten.
Ein Kind war besonders neugierig. Der kleine Niklas streunte heimlich alleine über das Gelände und sah sich alles ganz genau an, bis er vor einem kleinen Schuppen stehen blieb.
„Na, was machst du denn ganz alleine hier?“
Der kleine Junge drehte sich erschrocken um. Hinter ihm stand der Lokführer, der ein breites Lächeln im Gesicht hatte.
Niklas fasste sich ein Herz und antwortete.
„Ich bin neugierig was da drin ist. Den Schuppen haben sie uns nämlich noch nicht gezeigt.“
Der Lokführer rieb sich über sein Kinn.
„Das hier ist unser alter Lokschuppen. Der Arno passt da nicht rein, weil er zu groß ist. Führ ihn haben wir den neuen dort drüben bauen lassen. In diesem steht die alte Dampflok, die früher die Züge gezogen hat.“
Der kleine Junge wurde richtig neugierig und er bat einen Blick in das Gebäude werfen zu dürfen. Also zog der Lokführer seinen großen Schlüsselbund aus der Tasche und schloss das Tor auf. Darin stand eine kleine Dampflok. Sie war sehr eingestaubt, aber vor auf ihrem Kessel konnte man ganz deutlich ihren Namen lesen. In großen roten Buchstaben stand dort ‚LUKAS’. Der kleine Niklas bekam ganz große Augen und kletterte auf die Lok, um sich alles ganz genau ansehen zu können.
„Warum steht Lukas hier im Schuppen?“, fragte er den Mann.
„Weil unsere beiden Bürgermeister damals sagten, dass wir moderner werden müssten. Deswegen haben sie die große Diesellok gekauft. Die ist nämlich viel kräftiger und schneller. Und weil wir nur ein Gleis haben ist auch nur für eine Lok und einen Zug Platz.
Aber wenn du mich fragst, es ist sehr schade, die kleine Dampflok hier verrosten zu lassen.“
Beide schauten etwas traurig auf Lukas und verließen dann wieder den Schuppen, denn es war nun Zeit wieder zur Schule zurück zu gehen. Während des Rückweges hatte Niklas nun viel zu erzählen, denn er war ja der Einzige, der die Dampflok gesehen hatte. Seine Freunde waren richtig neidisch auf ihn. Und selbst die Lehrerin hörte genau zu, denn ihr kam da eine Idee.
Einige Tage später öffneten sich wieder die Tore zu Lukas Schuppen. Es war der Lokführer, der herein kam. Bei ihm war eine Frau, die die Lok nicht kannte. Und beide brachten ein paar Eimer mit Wasser und mehrere Lappen mit und begannen Lukas von oben bis unten zu putzen, bis er wieder richtig glänzte. Danach verließen sie ihn.
Am darauf folgenden Tag kamen sie wieder. Bei ihnen waren diesmal noch der kleine Junge, der schon einmal hier war und der Bürgermeister von Altenburg, der auch gleich mit der Dampflok sprach.
„Hallo Lukas. Es ist ja jetzt einige Zeit her, dass wir uns das letzte Mal gesehen haben. Aber ich habe eine freudige Überraschung für dich. Die Dame hier ist die Lehrerin Frau Klein. Sie findet, wie wir alle hier, dass es viel zu schade ist, wenn du hier im Lokschuppen langsam einstaubst und verrostest. So ein Schicksal hast du gar nicht verdient. Deswegen bekommst du eine ganz neue Aufgabe, die wir uns alle zusammen überlegt haben.“
Ein paar Tage später fuhr die große Diesellok wie jeden Morgen zum Bahnsteig in Altenburg. Wie immer scheuchte er die Leute in die Waggons, damit er pünktlich losfahren konnte. Ein paar Minuten später ging es auch schon los.
Der lange Zug setzte sich in Bewegung. Als Arno um die erste Kurve bog, hätte er fast eine Notbremsung vor Schreck gemacht. Durch die vielen Fahrten, die er nun schon gemacht hatte, wusste er, dass es zuerst an der Grundschule vorbei ging. Doch heute war dort etwas, was dort nicht hin gehörte, weil es dort nie zuvor gewesen war. Es hatte sich etwas verändert. Im Hof der Schule waren Schienen verlegt worden. Und auf diesen fuhr nun ein Zug.
Dieser bestand aus ganz neuen kleinen Waggons in denen nun die Schüler während der Pause saßen und viel Spaß hatten. Und ganz vorne war Lukas, die kleine Dampflok, und schnaufte immer wieder im Kreis. Man konnte richtig sehen, wie sehr es ihn freute, wieder einen Zug ziehen zu können. Und in seinem Führerhaus saß der kleine Niklas und zog immer wieder an der lauten Hupe, so dass sie in der ganzen Stadt zu hören war.
Der große Arno war richtig sauer. Denn er selber befuhr nur die ganz normale Eisenbahnstrecke nach Neuenstadt. Er war vorher stolz gewesen, als er die kleine Dampflok ersetzen durfte und hatte viel über sie gelacht. Und nun musste er hart arbeiten und die Leute zur Arbeit bringen, die nun nicht mehr brav auf ihren Plätzen saßen, sondern alle am Fenster standen und zu Lukas herüber winkten.
Arno musste nun arbeiten und die Dampflok hatte Spaß. Darüber musste er sich einfach ärgern. Er schaute schnell zur anderen Seite und fuhr weiter.