Der Winter schien in diesem Jahre kein Ende zu nehmen. Wochenlang lag eine dichte Schneedecke auf der Erde und zwischen den Dörfern des Riesengebirges hörte jeglicher Verkehr auf. Da ging für die Weberfamilien eine große Not an und Entbehrung und Armut waren die beständigen Gäste des Hauses. Diese Notlage der Weber benutzten gewissenlose Kaufleute in den Städten, indem sie ihnen für die gelieferte Leinwand geringeren Lohn boten. Sie wußten genau, daß die armen Leute unter allen Umständen Geld brauchten und brachten so die Waren für einen Spottpreis an sich.
„’s fast zum Verzweifeln,“ so sprach eines Abends der Webergottfried zu seinem Weibe, „erst muß man in Schnee und Kälte den jetzt so gefahrvollen Weg zur Stadt machen und dann erhält man einen Hungerlohn, der kaum uns beide sättigen kann, während doch noch acht Kinder wie die Orgelpfeifen um den Tisch stehen und sehnsüchtig nach der spärlichen Mahlzeit ausschauen.“
„Das wird ein trauriges Weihnachtsfest werden,“ versetzte seufzend die Frau, „Gott gebe nur, daß die Krankheit, welche in einigen Häusern eingekehrt ist, nicht ansteckend ist und über alle Familien kommt.“
Keinem gingen die Sorgen der Eltern mehr zu Herzen als dem ältesten Sohn, dem Gottlieb, oder wie er im Dorfe von andern Trägern seines Namens unterschieden wurde, dem Weberlieb. Das war ein braver, munterer Junge mit einem Herzen voll Mitleid, der sein Stückchen Brot mit dem armen Manne teilte, der hungrig und elend sich durchs Dorf schlich. Den Eltern ging er unermüdlich zur Hand. Im Sommer suchte er im Walde Beeren und Pilze, im Winter trug er trockenes Holz für den Ofen aus dem Walde herzu oder verdiente sich ein paar Pfennige durch kleine Botenwege. Aber wie sollte er nun bei diesem strengen, eiskalten Winter Arbeit sich verschaffen?
Weihnachten stand vor der Tür, aber im Dorfe sah es nicht weihnachtlich aus, denn wo die Armut wohnt, muß die Festfreude weichen. Dazu kam, daß die Krankheit sich als die rote Ruhr entwickelt hatte, wohl als Folge des Genusses von unnatürlicher Nahrung. Da standen die Webstühle still und fast in jedem Hause lag ein Kranker.
Auch den Weberfriedel hatte die Krankheit aufs Lager geworfen und eine entsetzliche Not herrschte im Hause. Hungernd und frierend saßen die Kinder um den Ofen herum. Das jammerte unsern Gottlieb so sehr, daß er vor seine Mutter trat und sprach:
„Hat nicht der Vater noch fertige Leinwand übrig, Mutter, welche wir verkaufen könnten?“
„Freilich, Lieb,“ entgegnete diese, „dann hätten wir wohl auf einige Zeit Brot, aber wer will denn die schwere Webe vier Stunden weit über das verschneite Gebirge in die Stadt tragen?“
Gottlieb war sogleich bereit.
„Das geht nicht an,“ antwortete die Mutter, „du bist schwach und ausgehungert, Zehrung kann ich dir nicht auf den Weg geben und in deinem dünnen Röckchen pfeift dir der kalte Wind bis auf die bloße Haut, daß du zitterst und bebst.“
„Aber es wird uns allen geholfen, liebe Mutter, laß mich in Gottes Namen ziehen.“
Gottlieb band sich ein Tuch über Kopf und Leib, legte den Reisesack mit der Leinwand auf die Schulter und sagte seiner Mutter herzlich Lebewohl. Hinaus ging’s durch den schneidenden Nordwind; oft hatte der Schnee eine Bank über den Weg geweht und der Knabe mußte sie Schritt für Schritt durchqueren, oft glitt er am Rande mit Schnee bedeckter Gräben aus und sank tief ein, oft mußte er sich ermüdet auf einen Stein setzen, um Atem zu schöpfen. Endlich nach unsäglicher Mühe und Anstrengung schleppte er sich an sein Ziel und kam in das Haus des Kaufmanns. Der kam ihm eben mit einem Reisepelz entgegen und wies ihn aus seinem Hause.
„Hat man nicht einmal am Heiligabend Ruhe vor dem Webergesindel. Marsch, daß du hinauskommst, ich kann dir deine Leinwand nicht abnehmen,“ so klang’s aus dem Munde des harten Mannes und dem armen Weberlieb liefen die Tränen über die Backen.
„Ach, Herr,“ flehte der arme Junge, „erbarmt Euch diesmal meines armen Vaters, er liegt an der Ruhr krank danieder. Nehmt mir die Leinwand, ich muß wieder heim.“
„Was, ansteckende Krankheiten bringt mir die Brut noch ins Haus, hinaus, auf der Stelle!“ schrie aufs höchste erregt der gefühllose Mann und befahl dem Diener, den Jungen hinauszuführen. Dann warf er sich in seinen Reisewagen und fuhr fort. Der Diener empfand Mitleid mit dem abgehärmten, erschöpften Kinde und reichte ihm ein Stück Brot und ein wenig Wein. Dann gab er ihm zwei Groschen, damit er auch für den Vater etwas Brot kaufen könne.
Der Wein hatte den Knaben gestärkt und so unternahm er es, die schwere Last wieder auf den Rücken zu laden und den mühseligen Rückweg wieder anzutreten. Am Abend nahm die Kälte zu, kleine scharfe Eisnadeln trug der Wind über den Schnee; sie stachen dem kleinen Gottlieb in die Augen, daß er kaum zu sehen vermochte. Da wurden seine Füße matter, seine Kraft erlahmte, und stöhnend warf er sich auf einen beschneiten Baumstamm.
„Hier werde ich sterben müssen,“ murmelten seine Lippen. Da kam ihm plötzlich der Gedanke an die vielen wunderbaren Geschichten, die man sich von Rübezahls Freundlichkeit gegen die Kinder erzählte.
Mag er mich umbringen oder mir helfen, ich wage es: „Rübezahl, Rübezahl! Hilf du mir, die Menschen haben mich verlassen.“ So rief er laut mit Aufbietung aller Kräfte hinein in die beschneiten Bäume, Berge und Täler und schaurig gab das Echo seinen Ruf zurück.
Im nächsten Augenblick erhob sich ein starker Schneesturm, dem der Knabe nicht standhalten konnte, er ward zurückgeworfen und vom Schnee überschüttet. Da ward er von einer behaglichen Wärme durchströmt und süße Träume gingen durch seine Gedanken. Es war Christabend. In der Dorfkirche hielt man Christvesper. Die Kirche war hell erleuchtet, aus den Augen der Kinder strahlte lichte Weihnachtsfreude. Der Pfarrer verkündigte der atemlos lauschenden Menge die alte liebliche Geschichte von der Geburt des Christkindleins auf Bethlehems Flur. Die Gemeinde sang: „Dies ist die Nacht, da mir erschienen des großen Gottes Freundlichkeit“ und nun war Gottlieb an der Reihe, mit seinem hellen Stimmchen allein vor der Gemeinde zu singen. So nahm er das lange Wachslicht in die Hand, trat vor das Lesepult auf der Orgelbrüstung und begann erst leise, dann kräftiger und mutiger:
O du fröhliche, o du selige,
Gnadenbringende Weihnachtszeit.
Welt ging verloren,
Christ ist geboren,
Freue dich, o Christenheit!
In demselben Augenblicke trat aus den Bäumen ein wohlgekleideter, freundlich blickender Herr hervor, hüllte den armen Knaben liebevoll in seinen Pelz, nahm auch die Webe Leinwand auf und trug ihn eine kurze Wegstrecke zu seinem Schlitten.
In einem hellerleuchteten Schloß angelangt, rief er seine Diener. Diese nahmen ihm die Last ab, trugen den Knaben auf seinen Befehl in ein Bett und legten ihn auf weiche, behaglich erwärmte Kissen nieder.
Mittlerweile hatte der Herr die Webe Leinwand genommen und war damit auf die Straße zurückgeeilt. In diesem Augenblicke kam der vierspännige Reisewagen des hartherzigen Kaufmanns herangerollt.
Plötzlich scheuten die vier Rosse, ein Ballen Leinwand wurde von oben unter sie geworfen und ein markerschütterndes, entsetzliches Hohngelächter erschallte. Wohl versuchte der Kutscher, die erschreckten Tiere im Zaume zu halten, aber er selbst wurde mit einem Ruck von seinem Sitze in die Höhe gehoben. Er flog ein Stück durch die Luft und wurde dann sanft vor einem Gasthause niedergesetzt. Vor seinen Füßen aber lag ein Beutel mit Goldstücken, auf welchem geschrieben stand: „Für die Angst!“ Seine Pferde hatten mittlerweile den Leinwandballen auseinandergeworfen und um den ganzen Wagen gewickelt. Dadurch fielen sie zu Boden und der Wagen mit. Da rief aus aller Angst der Kaufmann um Hilfe, denn die Tür der Kutsche war so zugewickelt, daß ein Entweichen unmöglich war.
Sofort tauchte eine furchtbare, riesengroße Gestalt vor seinen Augen auf, welche ihm zornig mit der Faust drohte und schrie:
„Ha, verwünschter Geizhals, wenn du nicht sofort zu sühnen versprichst, was du mit deiner unmenschlichen Härte verschuldet hast, so mußt du sterben!“
Da schlotterten dem Kaufmann die Knie und zitternd rief er aus:
„Ich will alles geben und tun, wenn ich das Leben behalte.“
„Erbärmlicher Erdenwurm,“ entgegnete der Berggeist, „werde barmherzig und mild. Wenn jetzt der Tod in den armen Weberdörfern so viele Opfer grausam fordert und Wehklagen aus vielen Häusern erschallen, so sollten dir diese Jammertöne in deine hartherzige Seele dringen. Du trägst die Schuld auf deinem Gewissen, das sich kein Bedenken daraus macht, wenn jene armen, ehrlichen Menschen Hungers sterben.“ Da gelobte der Kaufmann in seiner fürchterlichen Angst Besserung und gab dem Berggeiste — denn dieser war es — alles Geld, das er bei sich hatte, zur Verteilung unter die Darbenden. Da nahm Rübezahl ihn beim Genick und setzte ihn unsanft vor seinem Hause nieder.
Verwundert öffnete Gottlieb die Augen und wußte nicht, wie er an diesen Ort gekommen war. Die Diener brachten ihm Speise und Trank, aber er rührte nichts an. Da trat ein freundlicher Herr ein und redete ihm zu, er solle nur essen; er wolle ihn dann mit dem Schlitten nach Hause fahren.
„Ich werde auch deinen Eltern und Geschwistern eine Labung bringen und — was dir sicherlich am meisten gefallen wird — der Kaufmann ist anderes Sinnes geworden, er hat dir und allen Webern in eurem Dorfe die Leinwand zu gutem Preise abgekauft. Das Geld habe ich bereits in meiner Tasche.“ Wer war da froher als unser Weberlieb! Vor Freude küßte er die Hände des guten Herrn.
Nun ging’s unter Peitschenknall und Schellengeläut zu Gottliebs Heimatsdorf zurück. Das war ein seliger Christabend im ärmlichen Weberhäuschen! Der Herr hatte Brot und Wein, Fleisch und Reis mitgebracht, außerdem Geld und für die Kranken des Dorfes eine Flasche voll Arznei, welche augenblicklich half. So war das Christfest in dem Weberdorfe zum Freudenfest geworden und alle Kümmernis hatte ein Ende. Da wurde es allen klar, daß hier kein anderer als Helfer in der Not erschienen war als Rübezahl, der mächtige Berggeist des Riesengebirges.