"Tor!", schrie Hamoud, als die rostige Konservendose an Tahira vorbeiflog. Aufgebracht rannte Jamal zu seiner Schwester und schubste sie: "Siehst du! Mädchen taugen zu nichts! Schon gar nicht zum Fußball spielen! Geh' und spiel mit deinen Freundinnen!"
Die elfjährige Tahira kämpfte gegen die Tränen an. Sie wollte nicht mit den Mädchen Puppen spielen. Sie wollte auch nicht nur im Tor stehen. Tahira wollte Stürmer sein, dem Ball nachjagen und Tore schießen. Sie wollte spielen wie der Fußballheld der Nation, Sami Al-Jaber, der mit seinen Toren die saudiarabische Mannschaft nach Japan an die WM 2002 gespielt hatte. Entschlossen sagte sie: "Nein. Ich gehe nicht zu den Mädchen. Ich will Fußball spielen. Und ich will raus aus dem Tor. Lass mich im Feld mitspielen und wenn ich bis zum Mittagessen kein Tor geschossen habe, werde ich euch nie wieder bitten, mich mitspielen zu lassen."
Jamal legte seine Stirn in Falten, so wie er es immer tat, wenn er überlegte. Plötzlich begann er zu strahlen. "Gut. Abgemacht." Mit einem hämischen Grinsen schickte er Nasser ins Tor. Dann ging das Spiel weiter.
Tahira rannte, was sie konnte, aber immer wenn sie kurz davor war den Ball zu erreichen, war ihr Bruder, ein Gegner oder ein anderer Junge ihrer Mannschaft schneller. Auch bekam sie nie einen Ball zugespielt. Nach einer Stunde schwitzte sie fürchterlich, ihr Hals war trocken und auch der hungrige Bauch hatte begonnen, sich lautstark bemerkbar zu machen. Ängstlich schaute sie zu der hoch am Himmel stehenden Sonne hinauf. Sie wusste, ihre Mutter konnte sie jeden Augenblick zum Mittagessen rufen. Am liebsten wäre sie zum Brunnen gelaufen, um den stechenden Schmerz in ihrer Kehle zu lindern. Doch wenn sie jetzt aufgab, durfte sie nie wieder mit den Jungs Fußball spielen. Sie musste ein Tor schießen, koste es was es wolle.
Während Tahira noch krampfhaft überlegte, wie sie in den nächsten Minuten an die Konservendose kommen und dazu noch ein Tor schießen könnte, rollte sie ihr geradewegs vor die Füße. Verdutzt blickte sie um sich. Etwa fünfzehn Meter hinter ihr kamen Hamoud und ihr Bruder Jamal angerannt, aber sonst befand sie sich mit der Dose alleine vor dem Tor. Ihre Stunde war endlich gekommen. Sie musste nur dieses unförmige Etwas an Mahesh, dem Torhüter der anderen Mannschaft, vorbeischießen und dabei zwischen die beiden Stecken, die das Tor bezeichneten, treffen. Mit einem Satz sprang sie hinter die Dose, gab ihr einen Kick und rannte die wenigen Meter hinterher. Hinter sich hörte sie die Stimme ihres Bruders rufen: "Na los! Schieß schon! Worauf wartest du?!"
"Jetzt oder nie!", dachte sie noch einmal und holte mit dem rechten Fuß aus. Mit aller Geschwindigkeit ließ sie den Fuß in Richtung Dose sausen. Doch statt auf die verbeulte Konservendose, knallte ihr Fuß mit voller Wucht gegen Jamals Schienbein, der gerade in diesem Moment selbst die Dose ins Tor verfrachten wollte. Mit einem lauten Schrei stürzten beide zu Boden. Auch Hamoud, der weder ausweichen noch bremsen konnte, stolperte über die am Boden liegenden Geschwister und fiel bäuchlings auf die Dose. Diese gab, die ewige Treterei satt habend, unter Hamouds Gewicht nach und verabschiedete sich mit einem blechernen Quietschton von ihrer Fußballkarriere. Jamal rieb sich fluchend das Schienbein, Hamoud zog mit einem enttäuschten Seufzer die platt gewalzte Dose unter seinem Bauch hervor, Tahira weinte und zu allem Überfluss riefen verschiedene Mütter ihre Kinder zum Mittagessen nach Hause. Aus! Tahiras Fußballkarriere war somit beendet.
"Ich weiß, dass mich der Trainer übermorgen in Riyad erwartet. Trotzdem möchte vorher meine Tante in Halaban besuchen." Sami Al-Jaber war genervt. Er hatte seiner Lieblingstante Zahid versprochen, sie vor seinem Abflug nach Japan noch einmal zu besuchen. "Morgen bin ich wieder zurück" Ohne auf ein weiteres Protestwort seines Vaters zu hören, warf er seine Tasche auf den Rücksitz seines alten weißen Ford und fuhr los. Auf der beinahe zweistündigen Fahrt nach Halaban lockerte sich seine in den letzten Tagen angespannte Stimmung merklich und er freute sich riesig, seine Tante vor der WM noch einmal zu sehen. Fröhlich pfeifend fuhr er durch die öde Landschaft, als ihm in einem kleinen Dorf kurz vor Halaban das Benzin ausging.
"Scheiße!", zischte er zwischen seinen Zähnen hervor. Verärgert holte er einen leeren Kanister aus dem Kofferraum und machte sich auf die Suche nach einer Tankstelle. Schon oft war er auf dem Weg zu seiner Tante durch dieses Dorf gefahren, aber noch nie hatte er die heruntergekommenen Häuser bemerkt, die die Straße säumten. Vor einem sandigen Platz blieb er stehen. Einige Jungs spielten Fußball. Als Ball benutzten sie eine zerbeulte, rostige Konservendose. Sami musste schmunzeln beim Gedanken daran, dass er als Kind auch alles benutzt hatte, um Fußball damit zu spielen. Er wollte schon weitergehen, als er bemerkte, dass inmitten der Jungs auch ein Mädchen mitspielte. Er schaute ihr zu, wie sie verbissen hinter dem rostigen Ding herrannte und es doch nie erreichte. Als die Dose plötzlich unerwartet vor ihr landete, ertappte er sich, wie er sich instinktiv wünschte, sie möge ein Tor schießen und es den Jungs zeigen. Doch alles schien schief zu gehen und schließlich lag sie mit zwei anderen am Boden und weinte.
"Ich habe doch gesagt, dass du nicht Fußball spielen kannst. Sieh was du angerichtet hast du dumme Ziege! Du hast unseren Ball kaputt gemacht." Jamals Gesicht war rot vor Wut. "Nie wieder lassen wir dich mitspielen!"
Sami hatte den Kindern einen Moment lang zugehört. Schließlich ließ er den Kanister neben dem Platz liegen und eilte zurück zum Wagen. Er kramte seinen alten Fußball, den er immer bei sich hatte, vom Rücksitz und ging zurück zu den Kindern.
"Was ist denn hier los?", fragte er, als er wieder bei den Kindern war.
"Nichts! Meine Schwester ist einfach zu dumm, um Fußb..." Jamal verstummte. Mit offenem Mund starrte er den Mann an, der vor ihm stand. Auch Tahiras Tränen versiegten sofort, als sie den jungen Mann erkannte. Sie glaubte zu träumen. Vor ihr stand niemand anderes als ihr Idol Sami Al-Jaber.
"Ich habe gesehen, dass eurer ‚Fußball' kaputt gegangen ist. Und da dachte ich, vielleicht möchtet ihr damit weiter spielen." Sami zwinkerte Tahira zu und überreichte ihr den Ball. "Übt fleissig weiter, dann spielt ihr vielleicht einmal in der Nationalmannschaft. Und" - diesmal warf er Jamal einen Blick zu - "in anderen Ländern gibt es auch Mädchen, die Fußball spielen."
Mit diesen Worten drehte er sich um, nahm seinen Kanister und setzte seine Suche nach einer Tankstelle fort. Die verdutzten Kinder starrten ihm mit glänzenden Augen nach.
Schließlich meinte Jamal: "Ich habe noch eine Dose zu Hause. Nach dem Mittagessen bringe ich sie mit."
"Aber wir haben doch jetzt einen richtigen Ball", erwiderte Nasser verdutzt.