Kaum jemand erinnert sich an die Wunsch-Fee. Seit Jahrtausenden begleitet sie die Menschen. Ein leichtes Leben hatte sie wirklich nicht. Wünsche erfüllen ist sehr anstrengend. Die häufig unsinnigen Bitten der Menschen Kraft raubend. Mit der Zeit lernte sie Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden.
Nie hat sie aufgehört, den Menschen beizustehen. Mit ihrer Hilfe hat sich der Homo sapiens zu einem recht ansehnlichen Lebewesen entwickelt. In den letzten drei Jahrhunderten unserer Zeit jedoch hat er sich unaufhörlich dem Zwang der Technisierung ausgesetzt. Alles sollte schöner, bequemer und schneller werden. Jeden Tag wurden neue Erfindungen gemacht. Von Mal zu Mal wurden die Wünsche komplizierter. Die Wunsch-Fee bemühte sich stets, ihnen gerecht zu werden. Zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts fühlte die arme Frau sich unendlich müde, völlig ausgelaugt. Sie sehnte sich in die Zeit der ideellen Wünsche zurück.
"Einmal noch werde ich zu den Menschen gehen. Sicher leben einige unter ihnen, deren Wertvorstellungen den meinen gleichen."
Und so machte sich die gütige Frau auf den Weg. Von Land zu Land. Von Stadt zu Stadt. Durch die kleinsten Dörfer wanderte sie. Kaum jemand nahm Notiz von ihr.
Sonderliche Alte, hatte wohl manch einer gedacht, der ihr begegnete. Zeit, eine Bitte an sie zu richten gab es so wie so nicht mehr. Wünsche waren passé. Es galt: Ziele zu erreichen!
"Weshalb weinst du, Tochter?" Voller Mitleid sammelte die Mutter der Fantasie die Tränen ein, ließ die glitzernden Perlen auf der Handfläche hin und her rollen.
"Ach, liebe Mutter! Ich kann die Menschen nicht mehr erreichen. Sie leben in einer schrecklich schnellen Zeit. Für mich - und auch für dich ist dort kein Platz. Ich glaube, wir müssen uns eine neue Welt suchen", antwortete die Wunsch-Fee bekümmert.
Die Mutter der Fantasie dachte eine halbe Sekunde nach. Mehr Zeit brauchte sie nicht, um das Problem der Tochter zu lösen.
"Eine neue Welt suchen? Ich denke nicht daran! So lange Menschen auf dieser Erde leben, werden wir bei ihnen sein. Du solltest dich eine Weile in ihrem Dienstleistungsgewerbe aufhalten. Dort wirst du den Kontakt zu den Menschen mühelos wieder herstellen können. Hier, nimm deine Perlen! Sie sind ein Zeichen! Sobald die Menschen oder nur ein einziger deine Frage verstanden haben, werden diese Perlen zu Tränen. Freudentränen natürlich, meine Liebe! Sie brechen den Bann. Du kannst wieder Wünsche in Hülle und Fülle erwarten. Leb wohl, kleine Fee."
Lange sah die Wunsch-Fee die farbenprächtigen Schwingen von Mutter Fantasie durch die Wolken gleiten.
"Sie wünschen, bitte?" Immer dieselbe Frage. Nie die richtige Antwort. Hinter vielen Theken, in etlichen Büros oder Gaststätten hat die Wunsch-Fee gearbeitet. Doch niemand erkannte sie.
Die lange Schlange vor einer Brot-Theke schien kein Ende zu nehmen. Voller Ärger beobachtete ein junger Mann die Verkäuferinnen.
"Hoffentlich bedient die langsame Alte mich nicht! Da bin ich erst zum Mittag wieder zu Hause, und die Brötchen alt!"
"Sie wünschen, bitte?"
"Mensch, Alte, was soll das Getue? Ich wünsche nicht. Ich will nur ein paar Brötchen, klar?"
"Wünschen Sie vielleicht, dass Sie Ihre Gewalt verlieren? Ich möchte Ihnen gerne dabei helfen."
Der junge Mann war nicht der einzige, der mit hochrotem Kopf ein Geschäft verließ.
Aber auch viele nette Menschen lernte die Fee kennen. Gerne erinnerte sie sich an die junge Mutter mit den zwei niedlichen Töchtern.
"Sie wünschen, bitte?"
"Meine Güte! Ich wünsche mir so viel! Aber heute möchte ich nur ein Brot, sechs Semmeln und drei Pfannkuchen." Ein echtes Lächeln wurde verschenkt.
"Nicht ein einziger, wirklich wichtiger Wunsch?"
"Doch, doch. Habe ich schon gesagt. Selbstverständlich habe ich einen bestimmten Wunsch. Den können Sie mir aber sicherlich nicht erfüllen."
"Schade! Sie war ganz nah dran!"
Rege Betriebsamkeit erfüllte den Markt einer Stadt in Albanien. Agnes Gonxha Bojaxhio war sehr glücklich. Zum ersten Mal durfte sie alleine einkaufen. Ein Geburtstagsgeschenk für Mutter. Sehr kritisch begutachtete die Kleine die angebotenen Waren.
Einen Schal, möglichst aus Seide, suchte sie. Den Schönsten hatte sie am Stand der alten Frau entdeckt. Die Alte saß auf einem Stuhl. Freundlich begrüßte sie das Kind.
"Sie wünschen, bitte?"
Agnes konnte ein kleines Kichern nicht zurückhalten. Noch nie hatte sie gehört, dass ein Kind mit ‚Sie' angesprochen wurde. Das ‚Sie' aber half der Fee, ein wenig Abstand zu wahren.
Beinahe verlor sich ihr Blick in den großen, braunen Kinderaugen.
"Oh, ich? Ich wünsche mir Frieden für die ganze Welt! Geht das?"
Die Fee schüttelte den Kopf.
"Bedaure, meine Kleine! Frieden wird es erst dann geben, wenn alle Menschen ihn zur gleichen Zeit wünschen."
"Na, gut! Dann! Dann wünsche ich mir so viel Liebe, dass ich sie mit den Menschen teilen kann."
Die Perlen in der Gewandtasche verloren Form und Gewicht.
Winzige, helle Tränen glänzten im Gesicht der Wunsch-Fee.
Voller Freude erfüllte sie den Wunsch des kleinen Mädchens. Eine Quelle immer währender Liebe sprudelte im Herzen dieses außergewöhnlichen Kindes.
Im Alter von siebenundzwanzig Jahren ging Agnes Gonxha Bojaxhio nach Indien. Dort kümmerte sie sich um die Ärmsten der Armen, schenkte ihnen ein Übermaß an Liebe.
Am 5. September 1997 schlossen sich die großen, braunen Augen für immer. Agnes wurde 87 Jahre alt. Ein langes, erfülltes Leben lag hinter ihr.
Für einen Augenblick trauerte die Welt um Mutter Theresa.