Es lebte einmal ein Adler zusammen mit seiner lieben Adlerfrau auf seinem Horst. Das Haus war in Ordnung, die Brut recht und schlecht großgezogen und das Leben ging so seinen Gang.
Der Adler sorgte dafür, dass alle zu essen hatten, seine Frau hielt das Haus in der Reihe und man war es so zufrieden.
Einmal ergab es sich, dass die Adlerfrau zusammen mit dem Kind einen Besuch in der Ferne machen mussten, der sich nicht verschieben ließ.
Der Adler blieb zurück, denn einer musste ja auf den Horst aufpassen.
Nachdem er sich versichert hatte, dass alles in Ordnung sei, dachte er sich, man habe ja Zeit, ein bisschen im Jagdrevier herumzufliegen und nach dem Rechten zu sehn. So reckte er langsam seine schon etwas steifen Schwingen und erhob sich in die Lüfte. Dunkel erinnerte er sich, dass es außerhalb besagten Reviers noch etwas anderes gegeben hatte. Also lenkte er seinen Flug in die Richtung, in die er schon lang nicht mehr geflogen war.
Bald hatte er die Grenze seines ihm vertrauten Bereiches erlangt und äugte neugierig auf das Land, das dahinter lag, reckte nochmals seine Flügel zurecht und begann mit kräftigen Flügelschlägen, die eigene Angst vor dem Ungewissen zurücklassend, das vergessene Terrain zu erkunden.
Was gab es da alles zu sehn! Er überflog die Berge des Vertrauens, die Täler der Sehnsucht und erreichte sogar die blauen Wogen des Meeres der Hoffnung.
Lange kreiste er, immer mehr an Höhe gewinnend, über den Wäldern der Freundschaft.
Vereinzelt entdeckte er in diesen Wäldern auch kleine verborgene Lichtungen, über deren Sinn er sich nicht ganz klar war. Aber er dachte sich, einem Instinkt folgend: "diese Fleckchen sind so wunderschön, und ich bin bestimmt einer der wenigen, der sie je gesehen hat." So beschloss er, niemandem von der Existenz dieser Lichtungen zu erzählen.
Während er dahinsegelte, summte er eine selbsterdachte Melodie zu den Worten, die er einmal gelesen hatte:
Seitdem ich die Grenzen,
die man mir setzte,
nicht mehr anerkenne,
nicht mehr als Grenzen erlebe,
spüre ich erst
wie stark ich bin -
wie grenzenlos ich sein kann.
die man mir setzte,
nicht mehr anerkenne,
nicht mehr als Grenzen erlebe,
spüre ich erst
wie stark ich bin -
wie grenzenlos ich sein kann.
Als er so mit leichtem aber kräftigem Herzen und mit scharfem Blick sich eine dieser Lichtungen näher betrachtete, sah er unter den Gräsern der Niedergeschlagenheit etwas blinken und blitzen. Er setzte zum Sturzflug an, verwundert über seine eigene Flugkunst, die er längst verloren geglaubt hatte und landete punktgenau neben diesem Kleinod, das so schön in der Sonne der Erwartung funkelte.
Er betrachtete es eine Weile und fand heraus, dass es sich um einen kleinen Sonnenkiesel handelte.
Der Adler wusste nicht viel über Sonnenkiesel, nur, dass sie sehr, sehr selten waren. Ohne lange zu überlegen, heftete er sich den Sonnenkiesel vorne an sein Federkleid, um mit stolzgeschwellter Brust sich abermals in die Lüfte der freudigen Erregtheit zu schwingen. Was war das eine Freude, so ungezwungen und frei durch die Welt zu fliegen und dabei auch noch so etwas Wertvolles und Seltenes gefunden zu haben.
Er blickte zum Himmel und merkte, bei der herannahenden Dämmerung, dass er eigentlich schon viel zu lange unterwegs gewesen war. Ob seinem Horst auch nichts passiert war in der Zeit der Abwesendheit? So trat er schweren Herzens den Heimflug an, stellte fest, dass zu Hause alles wohlgeordnet war, so, wie er es verlassen hatte, und alles nahm seinen Gang und man war es so zufrieden.
Doch nachts träumte der Adler manchmal von seinem Ausflug in diese schöne, andere Welt und flog im Geiste die Strecke noch mal und noch mal und noch mal.
Und wenn er ganz alleine war, holte er, wohlbehütet unter seinem Federkleid, den kleinen Sonnenkiesel hervor, streichelte ihn ein wenig, erfreute sich an seinem klaren Leuchten, um ihn danach wieder vorsichtig zu verstauen, damit ihm nichts geschehe.