»Du kannst gehen«, sagte er zu ihm. »Ich habe dich reich gemacht, du wirst auf deine alten Tage glücklich sein; aber ich will dich nicht länger mit meinem Leben spielen lassen. Wie, du Elender! Ich spüre Hunger. Wo ist mein Essen? Antworte!«
Jonathas lächelte zufrieden, nahm eine Kerze, deren Flamme in der tiefen Dunkelheit der weitläufigen Räume des Hauses spukhaft flackerte, und führte seinen Herrn, der wieder zur bloßen Maschine geworden war, über einen langen Gang bis zu einer Tür, die er plötzlich öffnete. Raphael wurde von Licht überflutet; er war geblendet. Ein unerhörtes Schauspiel überraschte ihn. Seine Kronleuchter steckten voll brennender Kerzen, die seltensten Blumen seines Treibhauses waren harmonisch angeordnet, eine Tafel glänzte von Gold- und Silbergeschirr, Perlmutt und Porzellan; ein königliches Mahl dampfte darauf, dessen verlockende Gerichte den Gaumen reizten. Er sah seine Freunde versammelt und zwischen ihnen entzückende Frauen im schönsten Schmuck, mit tiefausgeschnittenen Kleidern, nackten Schultern, Blumen im Haar und funkelnden Augen; die verschiedenartigsten Schönheiten, verlockend in wollüstigen Verkleidungen: die eine brachte ihre reizenden Formen durch ein irisches Jäckchen zur Geltung, die andere trug die sinnverwirrende Basquina, den Reifrock der Andalusierinnen; diese erschien halbnackt als Diana, Göttin der Jagd, jene züchtig und lieblich als Mademoiselle de La Vallière, [Fußnote] alle aber waren in gleicher Weise berauschend. Aus den Augen aller Gäste blickte Freude, Liebe, Lebenslust. Als Raphaels Totenantlitz sich in der Tür zeigte, brach jäher Beifallssturm los, der so hell aufbrandete wie die Strahlen dieses improvisierten Festes. Die Stimmen, der Duft, das Licht, die überwältigende Schönheit dieser Frauen erregten seine Sinne, erweckten sein Verlangen. Eine köstliche Musik aus einem benachbarten Salon übertönte mit einer Flut von Harmonien diesen berauschenden Tumult und machte die seltsame Vision vollständig. Raphael fühlte seine Hand von einer schmeichelnden Hand gedrückt, von der Hand einer Frau, deren frische weiße Arme sich nun hoben, um ihn an sich zu ziehen: Aquilina stand vor ihm. Nun begriff er, daß diese Szenerie nicht schattenhaftes Gaukelwerk war wie die flüchtigen Bilder seiner farblosen Träume; er stieß einen dumpfen Schrei aus, schloß hastig die Tür und schlug seinen alten Diener ins Gesicht.
»Ungeheuer!« tobte er, »du hast also geschworen, mich zu morden!« Dann fand er, obwohl er bei dem Gedanken an die Gefahr, der er ausgesetzt war, an allen Gliedern zitterte, die Kraft, sein Zimmer zu erreichen, trank eine starke Dosis seines Schlafmittels und legte sich zu Bett.
»Aber zum Teufel!« stöhnte Jonathas, als er sich wieder aufrichtete, »Monsieur Bianchon hatte mir doch ausdrücklich aufgetragen, ich sollte ihn zerstreuen.«
Es war gegen Mitternacht. Um diese Stunde strahlte Raphael – dank einer der Launen der Physiologie, die das Staunen und die Verzweiflung der medizinischen Wissenschaften sind – in seinem Schlaf vor Schönheit. Ein lebhaftes Rot färbte seine bleichen Wangen. Auf seiner Stirn, die liebreizend war wie die eines jungen Mädchens, lag das Siegel des Geistes. Das stille, gelöste Antlitz schien wie blühendes Leben. Er glich einem Kind, das unter der Obhut der Mutter eingeschlafen ist. Sein Schlaf war gut, aus seinem roten Mund strömte ein gleichmäßiger reiner Atem, er lächelte; gewiß hatte ihn ein Traum in ein schönes Leben versetzt. Vielleicht war er hundert Jahre alt, vielleicht wünschten ihm seine Enkelkinder ein langes Leben; vielleicht saß er auf seiner ländlichen Bank in der Sonne unter dem Blätterdach und schaute wie der Prophet auf dem Bergesgipfel das Gelobte Land in verheißungsvoller Ferne.