»Da Sie über meine Abreise so unglücklich wären«, antwortete er dem Arzt, »will ich versuchen, mir Ihren guten Rat zunutze zu machen und doch hierzubleiben. Ich werde mir ein Haus bauen lassen, in dem wir die Luft Ihrer Verordnung entsprechend modifizieren, und werde gleich morgen darangehen.«
Der Doktor verstand das Lächeln bitteren Spottes, das um Raphaels Lippen schwebte, und empfahl sich, ohne ein Wort der Erwiderung zu finden.
Der See von Bourget ist ein weites, zerklüftetes Gebirgsbecken, 700-800 Fuß über dem Mittelmeer, ein Wassertropfen von einem so leuchtenden Blau wie kein zweiter in der Welt. Sieht man von der Höhe des Dent-du-Chat auf den See hinunter, so liegt er wie ein verlorener Türkis da. Dieser reizende Wassertropfen hat neun Meilen Umfang und ist an manchen Stellen beinahe 500 Fuß tief. Wenn man unter einem strahlenden Himmel in einem Boot auf dieser Wasserfläche dahinfährt, nichts hört als das Klatschen der Ruder, am Horizont nichts sieht als umwölkte Berge, wenn man sich des glitzernden Schnees der französischen Maurienne [Fußnote] erfreut, bald an Granitblöcken vorübergleitet, die Farnkraut oder Zwerggesträuch in ein grünes Samtkleid hüllt, bald an lachenden Hängen, auf der einen Seite Öde, auf der anderen üppige Natur, ein Armer beim Gastmahl eines Reichen, bilden diese Harmonien und Dissonanzen ein Schauspiel, in dem alles groß, in dem alles klein ist. Der Anblick der Berge ändert die Bedingungen der Optik und Perspektive: eine Tanne, die 100 Fuß hoch ist, sieht wie ein Schilfrohr aus, weite Täler eng wie schmale Pfade. Dieser See ist der einzige, auf dem man traulich von Herz zu Herz sprechen kann. Hier kann man sinnen und lieben. Nirgends trifft man ein schöneres Einvernehmen zwischen Wasser, Himmel, Bergen und Erde. Auf ihm findet man Balsam für jeden Kummer des Lebens. Dieser Ort bewahrt das Geheimnis des Leides, er tröstet und verringert es, der Liebe verleiht er etwas Ernstes, Andächtiges, das die Glut tiefer und reiner macht. Ein Kuß steigert sich dort zur Seligkeit. Aber vor allem ist er der See der Erinnerungen; er ist ihnen hold, gibt ihnen die Farbe seiner Wellen, ist ihnen ein Spiegel, in dem alles erscheint. Raphael ertrug seine Bürde nur in dieser schönen Landschaft. Hier konnte er unbekümmert, träumerisch und wunschlos sein. Nach dem Besuch des Arztes ging er spazieren und ließ sich nach der einsamen Spitze eines hübschen Hügels übersetzen, auf dessen Höhe das Dorf Saint-Innocent liegt. Von dieser Art Vorgebirge aus umfängt der Blick die Berge von Bugey, an deren Fuß die Rhône fließt, und das Ende des Sees; von hier aus betrachtete Raphael gern die melancholisch anmutende Abtei Haute-Combe auf dem gegenüberliegenden Ufer, die Begräbnisstätte der Könige von Sardinien, die zu Füßen der Berge ruhten wie Pilger, die am Ziel ihrer Reise angelangt sind. Ein gleichmäßiger, rhythmischer Ruderschlag störte den Frieden der Landschaft und lieh ihr eine monotone Stimme, die an die Litaneien der Mönche erinnerte. Der Marquis war erstaunt, in diesem Teil des Sees, der für gewöhnlich einsam war, Gesellschaft anzutreffen, und wandte, ohne sein Träumen aufzugeben, seine Aufmerksamkeit den Personen zu, die in dem Boot saßen. Er erkannte auf der hinteren Bank die alte Dame, die ihn am Abend zuvor so hart angelassen hatte. Als der Kahn an Raphael vorüberfuhr, wurde er nur von der Gesellschafterin dieser Dame gegrüßt, einer armen Adligen, die er zum erstenmal zu sehen glaubte. Nach ein paar Augenblicken schon hatte er die Gesellschaft vergessen, die schnell hinter dem Vorgebirge verschwunden war, als er in seiner Nähe das Rascheln eines Kleides und leichte Tritte hörte. Er wandte sich um und erblickte die Gesellschafterin; an ihrer verlegenen Miene merkte er, daß sie ihn sprechen wollte, und näherte sich ihr. Sie war sechsunddreißig Jahre alt, groß und dürr, vertrocknet und kühl, und wie alle alten Jungfern recht beklommen von seinem Blick, der mit einem unsicheren, zögernden Gang ohne Elastizität nicht mehr übereinstimmen wollte. Weder alt noch jung, gab sie durch eine gewisse würdevolle Haltung zu erkennen, welch hohen Wert sie auf ihre Tugenden und Eigenschaften legte. Sie hatte übrigens die stillen und klösterlichen Bewegungen der Frauen, die nur mit sich selbst zärtlich umzugehen pflegen, gewiß um der Liebe, die ihre Bestimmung ist, nicht zu erliegen.
»Monsieur le Marquis, Ihr Leben ist in Gefahr, kommen Sie nicht mehr ins Kurhaus!« sagte sie zu Raphael und wich dabei ein paar Schritte zurück, als wäre ihre Tugend schon in Gefahr.
»Aber bitte, Mademoiselle«, erwiderte Valentin lächelnd, »wollen Sie sich nicht deutlicher erklären, wenn Sie schon die Freundlichkeit hatten, hierherzukommen?«
»Oh!« gab sie zurück, »wäre es nicht eine so wichtige Sache, hätte ich nie gewagt, die Ungnade von Madame la Comtesse auf mich zu lenken, denn wenn sie jemals erführe, daß ich Sie gewarnt habe . . .«
»Und wer sollte es ihr sagen?« rief Raphael.