»Mir geht es schon gut«, erwiderte der Greis, von der Berührung mit dieser fiebernden Hand erschreckt. »Und Ihnen?«
»Oh! Ich hoffe, mich bei guter Gesundheit zu erhalten.«
»Sie arbeiten ohne Zweifel an einem schönen Werk?«
»Nein«, erwiderte Raphael, »exegi monumentum, [Fußnote] Vater Porriquet, ich habe eine große Schrift vollendet und der Wissenschaft für immer Valet gesagt. Ich weiß nicht einmal genau, wo mein Manuskript sich befindet.«
»Es ist doch hoffentlich in einem reinen Stil geschrieben?« fragte der Professor; »ich hoffe, Sie haben nicht die barbarische Sprache dieser neuen Schule angenommen, die wunder was zu tun glaubt, wenn sie Ronsard [Fußnote] entdeckt!«
»Mein Werk ist ein rein physiologisches Buch.«
»Oh, damit ist alles gesagt!« gab der Professor zurück; »in den Wissenschaften muß die Grammatik den Erfordernissen der Entdeckungen Genüge leisten. Nichtsdestoweniger, mein Sohn, kann ein klarer, harmonischer Stil, die Sprache Massillons, [Fußnote] Monsieur de Buttons, des großen Racine, [Fußnote] kurz, ein klassischer Stil nie von Schaden sein. Aber, mein Freund«, unterbrach sich der Professor, »ich vergaß den Zweck meines Besuchs. Es ist ein eigennütziger Besuch.«
Raphael erinnerte sich zu spät der wortreichen Eleganz und der beredten Umschreibungen, an die ein langjähriges Professorendasein seinen alten Lehrer gewöhnt hatte. Er bereute jetzt fast, ihn empfangen zu haben; aber in dem Augenblick, als er geneigt war, den Alten lieber wieder draußen zu sehen, unterdrückte er hastig diesen geheimen Wunsch und warf einen verstohlenen Blick auf das Chagrinleder, das vor ihm, auf einen weißen Stoff gespannt, hing, auf dem seine prophetischen Konturen sorgfältig mit einer roten Linie nachgezogen waren, die das Leder genau abschlossen. Seit der verhängnisvollen Orgie unterdrückte Raphael den leisesten Anflug eines Begehrens und lebte in einer Weise, die dem schrecklichen Talisman nicht das geringfügigste Zucken verursachen konnte. Das Chagrinleder war wie ein Tiger, mit dem er leben mußte, ohne seine blutdürstigen Instinkte zu wecken. Er hörte also die weitläufigen Erklärungen des alten Professors geduldig an. Vater Porriquet brauchte eine Stunde, um ihm von den Verfolgungen zu erzählen, deren Gegenstand er seit der Julirevolution geworden war. Der biedere Bürger hatte, vom patriotischen Verlangen nach einer starken Regierung beseelt, geäußert, man möge die Krämer in ihren Läden, die Staatsmänner in der Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, die Advokaten im Justizpalast und die Pairs von Frankreich im Luxembourg lassen; aber einer der populären Minister des Bürgerkönigs hatte ihn des Karlismus beschuldigt und ihn von seinem Katheder verbannt. Der alte Mann war ohne Stellung, ohne Einkünfte, ohne Brot. Da er für einen armen Neffen zu sorgen hatte, für den er im Seminar von Saint-Sulpice die Pension bezahlte, kam er, weniger für sich selbst als für seinen Adoptivsohn, seinen ehemaligen Schüler zu bitten, er möchte sich bei dem neuen Minister für ihn verwenden. Es war ihm nicht einmal um die Wiedereinsetzung in sein früheres Lehramt zu tun, sondern nur um eine Rektorstelle an irgendeinem Provinzgymnasium. Raphael war von einer unüberwindlichen Schlafsucht befallen, als die eintönige Stimme des redlichen Alten schließlich aufhörte, in seinen Ohren zu tönen. Aus Höflichkeit hatte er dem Greis bei dessen langsamen und umständlichen Darlegungen in die farblosen und fast starren Augen geblickt, und eine unerklärliche Trägheit war über ihn gekommen und hatte ihn magnetisiert und fast betäubt. »Nun ja, guter Vater Porriquet«, erwiderte er, ohne recht zu wissen, auf welche Frage er antwortete, »da kann ich nichts tun, gar nichts. Ich wünsche lebhaft, es möchte Ihnen gelingen . . .«
Mit einemmal bäumte sich Raphael, der gar nicht darauf achtete, welche Wirkung diese banalen, egoistischen und leichtfertigen Worte auf der gelben, runzligen Stirn des Alten hervorbrachten, heftig auf wie ein aufgescheuchtes junges Wild. Er bemerkte eine dünne weiße Linie zwischen dem Rand des schwarzen Leders und der roten Kontur; er stieß einen so furchtbaren Schrei aus, daß der arme Professor entsetzt zusammenfuhr.
»Fort, alter Blödian!« rief er, »Sie werden zum Rektor ernannt werden! Konnten Sie nicht eine Leibrente von 1000 Talern erbitten, statt eines derart mörderischen Wunsches! Dann hätte Ihr Besuch mich nichts gekostet. Es gibt 100 000 Stellen in Frankreich, und ich habe nur ein Leben! Ein Menschenleben ist mehr wert als alle Stellen der Welt . . . Jonathas!«