»Unmöglich!« rief Émile.
»Ich habe fast drei Jahre so gelebt«, versetzte Raphael mit einem gewissen Stolz. »Rechnen wir nach!« fuhr er fort. »Für drei Sous Brot, für zwei Sous Milch, für drei Sous Fleisch ließen mich nicht Hungers sterben und hielten meinen Geist in einem Zustand seltsamer Klarheit. Wie du weißt, habe ich beobachtet, daß die Diät einen wunderbaren Einfluß auf die Phantasie ausübt. Mein Zimmer kostete mich drei Sous täglich, nachts verbrannte ich für drei Sous Öl, ich räumte mein Zimmer selbst auf und trug Flanellhemden, um nicht mehr als zwei Sous pro Tag für Wäsche ausgeben zu müssen. Ich heizte mit Steinkohle und habe, wenn man die Ausgabe auf alle Tage des Jahres verteilt, nie mehr als zwei Sous täglich dafür ausgegeben. Ich besaß Kleider, Wäsche und Schuhe für drei Jahre und gedachte, mich nur ordentlich anzukleiden, wenn ich in eine öffentliche Vorlesung und in die Bibliotheken ging. Diese Ausgaben machten insgesamt nur 18 Sous, es blieben mir also für Unvorhergesehenes zwei Sous täglich. Ich erinnere mich nicht, während dieser ganzen langen Arbeitsperiode ein einziges Mal über den Pont-des-Arts gegangen zu sein oder mir Wasser gekauft zu haben. Ich holte es mir morgens vom Brunnen der Place-Saint-Michel, Ecke der Rue des Grès. Oh! ich trug meine Armut stolz. Wer eine schöne Zukunft vor sich sieht, schreitet in seinem Elend dahin wie ein Unschuldiger, der zum Galgen geführt wird, er schämt sich nicht. Krankheit hatte ich nicht einkalkulieren wollen. Wie für Aquilina hatte der Gedanke ans Spital für mich keinen Schrecken. Ich habe nicht einen Augenblick lang an meiner Gesundheit gezweifelt. Zudem darf ein Armer sich nur hinlegen, um zu sterben. Ich schnitt mir die Haare bis zu dem Augenblick selbst, wo ein Engel der Liebe und Güte . . . Doch ich will nicht vorgreifen. Nur eines sollst du wissen, lieber Freund, daß ich statt mit einer Geliebten mit einem großen Gedanken, einem Traum, einer Lüge zusammenlebte, an die wir alle mehr oder weniger zuerst glauben. Heute lache ich über mich, über dieses »Ich«, das vielleicht heilig und erhaben war und das jetzt nicht mehr existiert. Die Gesellschaft, die Welt, unsere Bräuche, unsere Sitten haben mir, als ich sie aus der Nähe sah, die Gefahren meiner unschuldigen Gläubigkeit und die Überflüssigkeit meines inbrünstigen Arbeitens enthüllt. All diese Vorkehrungen sind unnütz für den Ehrgeizigen. Wer dem Glück nachjagt, muß leichtes Gepäck haben! Hochbegabte Menschen begehen den Fehler, daß sie ihre jungen Jahre vergeuden, um sich für den Erfolg würdig zu machen. Während diese Ärmsten ihre Kraft und ihr Wissen aufspeichern, um mühelos die Bürde einer Macht tragen zu können, die sie flieht, sind die wortreichen und ideenarmen Intriganten pausenlos dabei, die Dummen zu übertölpeln und sich in das Vertrauen der Einfältigen einzuschleichen. Die einen studieren, die anderen marschieren, die einen sind bescheiden, die anderen sind unverfroren; das Genie unterdrückt seinen Stolz, der Intrigant pflanzt ihn auf und muß mit Notwendigkeit ans Ziel gelangen. Die Mächtigen haben den Glauben an das fertige Verdienst und das dreiste Talent so unbedingt nötig, daß es wahrhaft kindisch ist, wenn der wirkliche Gelehrte von den Menschen einen Lohn erwartet. Es liegt mir wahrhaft nichts daran, den Gemeinplätzen über die Tugend etwas hinzuzufügen, noch das uralte Lied, das die verkannten Genies immer gesungen haben, neu anzustimmen; ich will lediglich logisch den Grund suchen, warum mittelmäßige Menschen so häufig Erfolg haben. Mein Gott, das Studium ist eine so gute Mutter, daß es vielleicht ein Verbrechen ist, von ihm anderen Lohn zu erwarten als die reinen und sanften Freuden, mit denen es seine Kinder nährt. Ich entsinne mich, wie ich oft in heiterer Stimmung mein Brot in die Milch getaucht habe, an meinem Fenster die frische Luft atmete und meine Blicke über eine Landschaft von braunen, grauen und roten Dächern aus Schiefer oder aus Ziegeln, von gelben oder grünen Moosflecken bedeckt, schweifen ließ. Anfangs fand ich diese Aussicht einförmig, doch bald entdeckte ich allerlei seltsame Schönheiten. Am Abend belebten helle Lichtstreifen, die aus den schlecht geschlossenen Fensterläden fielen, die tiefen Schatten dieses merkwürdigen Reichs. Manchmal drangen von unten her die gelblichen Reflexe der Straßenlaternen durch den Nebel und zeichneten die Wellenlinien der dichtgedrängten Dächer schwach von den Straßen ab, so daß man ein Meer von unbeweglichen Wogen zu sehen meinte. Zuweilen tauchten vereinzelte Gestalten in dieser schweigsamen Einöde auf; zwischen den Blumen eines hängenden Gartens sah ich das hakennasige, eckige Profil einer alten Frau, die Kapuzinerkresse begoß, oder in dem Rahmen einer morschen Dachluke ein junges Mädchen, das sich bei der Toilette allein glaubte und von dem ich gerade nur die schöne Stirn und die langen Haare wahrnehmen konnte, die von einem hübschen weißen Arm hochgehoben wurden. In den Dachrinnen bewunderte ich eine vergängliche Vegetation, kümmerliche Pflänzchen, die ein Gewitter hinwegzuschwemmen pflegte. Ich studierte die Moose, die nach einem Regenschauer frisch ergrünten und sich in der Sonne zu einem trockenen braunen, eigentümlich schimmernden Samt verwandelten. Die flüchtigen reizvollen Effekte des Tageslichts, die melancholischen Stimmungen des Nebels, das plötzliche Hervorbrechen der Sonne, die Stille und die Wunder der Nacht, die Geheimnisse der Morgendämmerung, der Rauch aus den Kaminen, alle Erscheinungen dieser seltsamen Natur wurden mir vertraut und erfreuten mich. Ich liebte mein Gefängnis, war ich doch freiwillig dort. Diese Savannen von Paris, Dach an Dach gleichförmig zu einer Ebene gereiht, darunter Abgründe, in denen Menschen wimmelten, rührten mein Herz und harmonisierten mit meinen Gedanken. Wenn wir aus den himmlischen Höhen, wohin wissenschaftliche Meditationen uns getragen haben, herabsteigen, ist es quälend, sich unvermittelt wieder der Welt gegenüberzusehen. Damals habe ich die karge Schlichtheit der Klöster begreifen gelernt. Als ich fest entschlossen war, meinen neuen Lebensplan durchzuführen, suchte ich mir in den einsamsten Vierteln von Paris eine Unterkunft. Eines Abends, als ich von der Place de l'Estrapade kam, ging ich durch die Rue des Cordiers heim. An der Ecke der Rue de Cluny sah ich ein kleines Mädchen von ungefähr vierzehn Jahren mit einer Spielgefährtin Federball spielen, und das Lachen und der Mutwille der beiden amüsierte die Nachbarn. Es war schönes Wetter, der Abend war warm, es war im September. Die Frauen saßen vor den Türen und unterhielten sich wie in einer Provinzstadt am Feiertag. Ich betrachtete zuerst das junge Mädchen, dessen Gesicht einen wundervollen Ausdruck hatte und das in malerischer Haltung dastand. Es war eine reizende Szene. Ich suchte nach der Ursache dieser Traulichkeit inmitten von Paris und bemerkte, daß die Straße eine Sackgasse war und demnach kaum sehr belebt sein konnte. Da ich mich erinnerte, daß Jean-Jacques Rousseau in der Gegend gewohnt hatte, suchte ich das Hotel Saint-Quentin auf; sein verfallener Zustand ließ mich hoffen, dort ein billiges Quartier zu finden, und ich wollte mich darin umsehen. Als ich das niedrige Entrée betrat, sah ich die klassischen kupfernen Armleuchter, besteckt mit Kerzen, die sich methodisch über den Schlüsseln reihten, und ich war erstaunt, welche Sauberkeit in dem Raum herrschte, der in anderen Hotels gewöhnlich sehr schlecht gehalten zu sein pflegt, hier aber wie ein Genrebild anmutete; das blaue Bett, die Gerätschaften, die Möbel zeugten von einem konventionellen Schönheitssinn. Die Wirtin, eine Frau von ungefähr vierzig Jahren, aus deren Zügen Kummer sprach und deren Blick wie von Tränen getrübt war, erhob sich und kam auf mich zu. Ich nannte ihr bescheiden den Preis, den ich für die Miete zahlen konnte; sie schien darüber nicht verwundert, suchte aus all den Schlüsseln einen heraus, führte mich zu den Dachstuben und zeigte mir eine Kammer mit einem Ausblick auf die Dächer und die Höfe der Nachbarhäuser, aus deren Fenstern lange, mit Wäsche behangene Stangen ragten. Nichts konnte schrecklicher sein als diese Mansarde mit ihren schmutzigen gelben Wänden, die nach Elend roch und nur auf den armen Gelehrten zu warten schien. Das Dach senkte sich auf beiden Seiten gleichmäßig darüber, und die auseinanderklaffenden Ziegel ließen den Himmel hindurchsehen. Es war Platz für ein Bett, einen Tisch, einige Stühle, und unter dem spitzen Winkel des Daches konnte ich mein Klavier unterbringen. Da die arme Frau nicht reich genug war, diesen Käfig, den die Bleikammern von Venedig [Fußnote] wohl kaum übertrafen, einzurichten, hatte sie ihn bisher nie vermieten können. Ich hatte vom Verkauf der Möbel die Gegenstände ausgeschlossen, die zu meinem persönlichen Bedarf gehörten, und so wurde ich mit meiner Wirtin bald handelseinig und zog am Tag darauf bei ihr ein. Ich lebte in diesem Mansardengrab nahezu drei Jahre, arbeitete unablässig Tag und Nacht und mit so viel Freude, daß das Studium mir als die schönste Aufgabe, die glücklichste Lösung des menschlichen Lebens erschien. Die Ruhe und das Schweigen, die der Gelehrte braucht, haben etwas unaussprechlich Sanftes und Berauschendes wie die Liebe. Die angespannte Arbeit der Gedanken, die Suche nach Ideen, die ruhigen Betrachtungen der Wissenschaft spenden uns unsägliche Wonnen, die man so wenig schildern kann wie alle übrigen Phänomene des Geistes, da sie für unsere äußeren Sinne nicht wahrnehmbar sind. Wir müssen daher die Geheimnisse des Geistes auch immer durch materielle Vergleiche erklären. Das Vergnügen, allein und von einer sanften Brise umschmeichelt in einem klaren See inmitten von Felsen, Wäldern und Blumen zu schwimmen, würde den Unwissenden nur ein schwaches Bild des Glücks geben, das ich empfand, wenn sich meine Seele gleichsam in einem überirdischen Lichte badete, wenn ich den schrecklichen und verworrenen Stimmen der Inspiration lauschte, wenn Bilder aus einer unbekannten Quelle in mein zuckendes Hirn sprangen. Zu beobachten, wie auf dem Feld der Abstraktionen eine Idee sprießt, gleich der Morgensonne emporsteigt, oder besser, die heranwächst wie ein Kind, das langsam zur Reife gelangt und zum Mann wird, ist eine Freude, die alle irdischen Freuden übersteigt, oder vielmehr, ist göttliche Lust. Das Studium verleiht allem, was uns umgibt, einen magischen Schein. Der wackelige Tisch, auf dem ich schrieb, das braune Schafleder, mit dem er bedeckt war, mein Klavier, mein Bett, mein Lehnstuhl, die Schnörkeleien auf meiner Tapete, meine Gerätschaften, all diese Dinge gewannen ein eigenes Leben und wurden meine ergebenen Freunde, die verschwiegenen Gefährten meiner Zukunft. Wie oft habe ich ihnen nicht, wenn ich sie ansah, meine Seele enthüllt! Wie oft, wenn ich meine Augen über ein windschiefes Gesims gleiten ließ, sind mir neue Gedankenfolgen gekommen, ein schlagender Beweis meines Systems oder Worte, die mir treffend schienen, kaum auszudrückende Gedanken wiederzugeben. Wie ich die Dinge, die mich umgaben, betrachtete, entdeckte ich, daß jedes eine Physiologie, einen besonderen Charakter hatte. Oft sprachen sie zu mir; wenn die untergehende Sonne über die Dächer hinweg einen flüchtigen Schein in mein schmales Fenster warf, färbten sie sich, verblaßten, leuchteten auf, wurden bald düster, bald heiter und überraschten mich stets durch neue Wandlungen. Diese winzigen Ereignisse eines einsamen Lebens, die der rastlos geschäftigen Welt entgehen, sind der Trost der Gefangenen. War ich denn nicht gefangen von der Idee, in ein System gesperrt, obgleich die Aussicht auf eine glorreiche Zukunft mich aufrechterhielt? Bei jeder überwundenen Schwierigkeit küßte ich die weichen Hände der reichen, eleganten Frau mit den schönen Augen, die mir eines Tages die Haare streicheln und gerührt zu mir sagen würde: ›Du hast viel gelitten, mein armer Engel!‹ Ich hatte zwei große Werke in Angriff genommen. Eine Komödie sollte mir in wenigen Tagen einen Namen, ein Vermögen und den Eintritt in jene Welt verschaffen, wo ich die Hoheitsrechte des Genies auszuüben gedachte. Ihr alle habt in diesem Meisterwerk den ersten Fehlgriff eines jungen Mannes, der gerade aus dem Collège kommt, gesehen, nichts als eine Kinderei. Eure Spötteleien haben hochfliegenden Illusionen die Flügel gestutzt, und seither ruhen sie. Du, lieber Émile, warst der einzige, der Linderung in die tiefe Wunde träufelte, die die anderen in mein Herz schlugen. Du allein hast meine ›Theorie des Willens‹ [Fußnote] bewundert, jene langwährende Arbeit, um derentwillen ich die orientalischen Sprachen, die Anatomie, die Physiologie studiert und der ich den größten Teil meiner Zeit geopfert habe. Dieses Werk wird, wenn ich mich nicht täusche, die Arbeiten von Mesmer, [Fußnote] Lavater, [Fußnote] Gall [Fußnote] und Bichat ergänzen und der Wissenschaft einen neuen Weg weisen. Hier endet mein schönes Leben, dieses mit jedem Tag erneuerte Opfer, diese der Welt unbekannte Seidenwurmarbeit, deren einziger Lohn vielleicht in der Arbeit selbst liegt. Vom Alter der Vernunft an bis zu dem Tag, da ich meine Theorie beendete, habe ich unablässig beobachtet, gelernt, geschrieben, gelesen; mein Leben war wie ein langes Strafpensum. Obwohl ich verweichlicht war und zu orientalischer Faulheit neigte, obwohl ich in meine Träume verliebt und sinnlicher Natur war, habe ich doch immer gearbeitet und mir die Freuden des Pariser Lebens versagt. Ich schätzte Tafelgenüsse und lebte aufs kärglichste; ich liebte das Wandern und das Reisen zur See, sehnte mich, fremde Länder kennenzulernen, ja, ich hätte noch Vergnügen daran gefunden, gleich einem Kinde, Kieselsteine auf dem Wasser hüpfen zu lassen, und bin doch beständig mit der Feder in der Hand auf einem Fleck sitzengeblieben. Trotz meiner Redseligkeit lauschte ich stillschweigend den Vorlesungen der Professoren in der Bibliothek und im Museum; ich schlief auf meinem einsamen Lager wie ein Benediktinermönch, und doch war eine Frau mein einziger Wunsch, ein ständig gehegtes und nie erfülltes Verlangen. Kurz, mein Leben war ein grausamer Widerspruch, eine fortwährende Lüge. Aber so ist der Mensch! Manchmal brachen meine natürlichen Triebe hervor wie eine Feuersbrunst, die lange im verborgenen geschwelt hat. Wie in hitzigen Fieberträumen sah ich mich, der ich doch all die glühend ersehnten Frauen entbehrte und in äußerster Armut in einer elenden Künstlermansarde hauste, von hinreißenden Frauen umgeben. Ich lehnte in den weichen Polstern einer glänzenden Equipage und fuhr durch die Straßen von Paris. Von Lastern ausgehöhlt, stürzte ich mich in Ausschweifungen, wollte alles, besaß alles, war nüchtern trunken wie der heilige Antonius in seiner Versuchung. Glücklicherweise löschte der Schlaf schließlich diese verzehrenden Visionen; am anderen Tag rief mich lächelnd die Wissenschaft wieder und ich war ihr treu. Ich denke mir, daß auch die sogenannten tugendhaften Frauen oft von solchen Stürmen der Raserei, der Begierde und der Leidenschaft heimgesucht werden, die sich gegen unseren Willen in uns erheben. Solche Phantasien sind nicht ohne Reiz; gleichen sie nicht jenen Winterabendplaudereien, wo man von seinem Kaminfeuer aus bis nach China reist? Aber was wird während dieser köstlichen Fahrten, wo der Gedanke alle Hindernisse überspringt, aus der Tugend? Während der zehn ersten Monate meiner Zurückgezogenheit führte ich das dürftige und einsame Leben, das ich dir geschildert habe; am frühen Morgen holte ich, ohne daß jemand mich sah, meine Vorräte für den Tag ein; ich räumte mein Zimmer auf, war Herr und Diener zugleich und spielte den Diogenes [Fußnote] mit einem unglaublichen Stolz.