Nach einem kurzen Schweigen sagte Raphael leichthin: »Ich weiß wahrhaftig nicht, ob ich dem Dunst des Weins und des Punsches die Klarheit zuschreiben soll, die mich in diesem Augenblick mein ganzes Leben in einem einzigen Gemälde erschauen läßt, auf welchem die Gestalten, die Farben, die Lichter, die Schatten und Halbschatten getreulich wiedergegeben sind. Dies poetische Spiel meiner Einbildungskraft würde mich nicht in Erstaunen setzen, wenn es nicht von einer gewissen Verachtung für meine vergangenen Schmerzen und Freuden begleitet wäre. Aus der Entfernung betrachtet, ist mein Leben durch ein geistiges Phänomen wie zusammengeschrumpft. Dieser lange, schleichende Schmerz, der zehn Jahre gedauert hat, läßt sich heute durch ein paar Sätze wiedergeben, in denen der Schmerz nur noch ein Gedanke und die Freude eine philosophische Betrachtung ist. Ich urteile, statt zu empfinden . . .«
»Du bist langweilig wie ein Zusatzantrag, der im Parlament diskutiert wird«, warf Émile ein.
»Kann sein«, erwiderte Raphael ohne Murren; »so will ich dir, um deinen Ohren nicht allzuviel zuzumuten, die ersten siebzehn Jahre meines Lebens schenken. Bis dahin habe ich gelebt wie du, wie tausend andere, das Leben eines Schülers, dessen eingebildete Leiden und wirkliche Freuden unsere Erinnerung entzücken und nach dessen Fastenspeise unser verwöhnter Gaumen stets zurückverlangt, solange wir sie nicht von neuem genossen haben: schönes Leben, dessen Arbeiten uns verächtlich scheinen und das uns doch zu arbeiten gelehrt hat . . .«
»Komm zum Drama!« sagte Émile in einem halb komischen, halb klagenden Ton.
»Als ich das Collège verlassen hatte«, erwiderte Raphael und bekundete mit einer entschiedenen Handbewegung das Recht fortzufahren, »unterwarf mich mein Vater einer strengen Disziplin, er logierte mich in einem Zimmer ein, das neben seinem lag. Ich ging um neun Uhr abends zu Bett und stand um fünf Uhr morgens auf; nach seinem Willen sollte ich gewissenhaft die Rechte studieren. Ich besuchte die juristische Fakultät und arbeitete gleichzeitig bei einem Advokaten; aber die Gesetze von Zeit und Raum wurden so peinlich auf meine Ausgänge, meine Arbeiten angewendet, und mein Vater verlangte solch genaue Rechenschaft über . . .«
»Was geht denn mich das an?« unterbrach ihn Émile.
»Nun denn, hol dich der Teufel!« erwiderte Raphael. »Wie kannst du meine Gefühle begreifen, wenn ich dir nicht all die unbedeutenden Umstände schildere, die meine Seele beeinflußten, mich furchtsam werden ließen und mich lange in der kindlichen Einfalt des Jünglings befangen hielten? Bis zu meinem einundzwanzigsten Jahr hatte ich mich einem Despotismus zu beugen, der so hart war wie eine Klosterregel. Um dir das ganze Elend meines damaligen Lebens begreiflich zu machen, genügt es vielleicht, dir meinen Vater zu beschreiben: Er war ein großer, dürrer, engbrüstiger Mann mit einem bleichen Gesicht, scharf geschnitten wie eine Messerklinge, kurz angebunden, zänkisch wie eine alte Jungfer und kleinlich wie ein Bürovorsteher. Seine Vaterwürde schwebte drohend über meinen schelmischen und fröhlichen Gedanken und hielt sie wie unter einer bleiernen Kuppel gefangen. Wenn ich ihm ein liebevolles, zärtliches Gefühl bezeigen wollte, behandelte er mich wie ein Kind, das eine Dummheit sagen will; ich fürchtete ihn weit mehr als früher unsere Schulmeister; in seinen Augen war ich immer acht Jahre alt. Ich glaube ihn noch vor mir zu sehen. In seinem kastanienbraunen Überrock, in dem er sich geradehielt wie eine Osterkerze, sah er wie ein Bückling aus, der in das rötliche Papier eines Pamphlets gewickelt ist. Trotzdem liebte ich meinen Vater: im Grunde war er gerecht. Vielleicht hassen wir die Strenge dann nicht, wenn sie durch einen aufrechten Charakter, durch reine Sitten gerechtfertigt und geschickt mit Güte verbunden wird. Obgleich mein Vater nie von meiner Seite wich, mir bis zu meinem zwanzigsten Lebensjahr keine zehn Francs zu meiner Verfügung ließ, zehn elende, lumpige Francs, ein unermeßlicher Reichtum, deren vergebens erhoffter Besitz mich maßlos beglückt hätte, so suchte er mir wenigtens einige Zerstreuungen zu verschaffen. Nachdem er mir monatelang ein Vergnügen versprochen hatte, führte er mich in die Bouffons, in ein Konzert, auf einen Ball, wo ich eine Geliebte zu finden hoffte. Eine Geliebte! Das hieß für mich Unabhängigkeit. Aber verschämt und schüchtern, wie ich war, weder die Sprache der Salons noch irgend jemanden dort kannte, kehrte ich stets mit demselben unerfahrenen, von unerfüllten Wünschen übervollem Herzen wieder nach Hause zurück. Am nächsten Morgen mußte ich dann, von meinem Vater wie ein Schwadronspferd an der Kandare gehalten, von früh an erst zu einem Advokaten, dann in die Fakultät, dann in den Justizpalast. Hätte ich versucht, von dem einförmigen Weg, den mein Vater mir vorgezeichnet hatte, abzuweichen, hätte ich seinen Zorn auf mich geladen; er hatte mir gedroht, mich bei meinem ersten Vergehen als Schiffsjunge nach den Antillen einzuschiffen. Wenn ich dennoch gelegentlich wagte, mich dieser Gefahr auszusetzen, auf ein oder zwei Stunden, für irgendein harmloses Vergnügen, so stand ich furchtbare Angst dabei aus. Stell dir vor, die schwärmerischste Phantasie, das liebevollste Herz, das zärtlichste Gemüt, den poetischsten Geist immerfort dem unnachgiebigsten, sauertöpfischsten, kältesten Menschen der Welt ausgesetzt; kurzum, verheirate ein junges Mädchen mit einem Skelett, und du wirst die merkwürdigen Szenen eines solchen Daseins verstehen, die ich dir nur andeuten kann: Fluchtpläne, die beim Anblick meines Vaters zunichte wurden, Verzweiflungsausbrüche, die der Schlaf besänftigte, unterdrückte Wünsche und finstere Schwermut, die in der Musik Linderung fanden. Ich verströmte mein Unglück in Melodien. Mozart oder Beethoven waren häufig meine verschwiegenen Vertrauten. Heute muß ich lächeln, wenn ich mich all der Vorurteile erinnere, die mein Gewissen in dieser Periode der Unschuld und Tugend beunruhigten. Den Fuß in eine Gaststätte zu setzen, hätte ich für mein Verderben gehalten. Ein Café malte ich mir als einen Ort des Lasters aus, wo die Männer ihre Ehre einbüßen und ihr Vermögen aufs Spiel setzen. Geld beim Spiel zu riskieren, dazu hätte ich freilich erst welches haben müssen. Oh! selbst wenn es dich einschläfern sollte, will ich dir doch eine der schrecklichsten Freuden meines Lebens erzählen, eine jener Freuden, die sich mit Krallen in unser Herz bohren, wie ein glühendes Eisen in die Schulter eines Sträflings. Ich war auf dem Ball des Duc de Navarreins, einem Cousin meines Vaters. Damit du meine Situation völlig begreifen kannst, mußt du wissen, daß ich einen schäbigen alten Rock trug, plumpe Schuhe, eine Kutscherkrawatte und abgetragene Handschuhe. Ich hatte mich in eine Ecke gestellt, um nach Herzenslust Eis essen zu können und die hübschen Frauen anzusehen. Mein Vater entdeckte mich. Aus einem Grund, den ich niemals erraten habe, so sehr verblüffte mich dieser Vertrauensakt, gab er mir seine Börse und seine Schlüssel zum Aufbewahren. Zehn Schritte von mir entfernt spielten einige Herren. Ich hörte das Gold klingen. Ich war zwanzig und von dem Wunsch beseelt, einmal einen ganzen Tag lang den Lastern meines Alters zu huldigen. Meine Phantasie nährte Sehnsüchte, wie man ihresgleichen wohl kaum in den Gelüsten der Kurtisanen oder in den Träumen der jungen Mädchen findet. Seit einem Jahr träumte ich davon, elegant gekleidet im Wagen zu fahren, eine schöne Frau an meiner Seite, den großen Herrn zu spielen, bei Véry [Fußnote] zu dinieren, am Abend ins Schauspiel zu gehen, entschlossen, erst am nächsten Tag zu meinem Vater zurückzukehren und dann gegen ihn mit einem Abenteuer gewappnet zu sein, verwickelter als die Hochzeit des Figaro, so daß er mir unmöglich auf die Schliche kommen könnte. Dieses ganze Vergnügen hatte ich auf 50 Taler geschätzt. Stand ich nicht noch unter dem kindlichen Zauber des Schulschwänzens? Ich ging also in ein Boudoir, wo ich allein war, und zählte mit brennenden Augen und zitternden Fingern das Geld meines Vaters: 100 Taler! Von dieser Summe heraufbeschworen, umtanzten mich die Glücksbilder meines erträumten Streiches wie die Hexen Macbeths ihren Kessel, aber verlockend, berauschend, verführerisch. Ich ward zum tollkühnen Schelm. Ohne auf das Klingen in meinen Ohren noch auf das rasende Klopfen meines Herzens zu achten, nahm ich zwei 20-Francs-Stücke, die ich noch heute vor mir sehe. Ihre Jahreszahlen waren abgegriffen, und das Bild Bonapartes glotzte mir entgegen. Ich steckte die Börse in meine Tasche, trat an einen Spieltisch; die beiden Goldstücke in meiner feuchten Hand, umkreiste ich die Spieler wie ein Sperber den Hühnerstall. Von unbeschreiblichen Ängsten gepeinigt, warf ich rasch einen scharfen Blick um mich. Nachdem ich mich vergewissert hatte, von keinem meiner Bekannten bemerkt worden zu sein, setzte ich auf das Spiel eines kleinen, fetten, lustigen Mannes, auf dessen Kopf ich mehr Gebete und Gelübde häufte, als während dreier Stürme auf dem Meer zum Himmel geschickt werden. Dann pflanzte ich mich mit einem für mein Alter überraschenden Instinkt von Verruchtheit oder Machiavellismus an einer Tür auf, ließ meinen Blick durch die Salons streifen, ohne etwas darin wahrzunehmen. Meine Seele und meine Augen schwebten über dem verhängnisvollen grünen Tisch. Von jenem Abend datiert die erste physiologische Beobachtung, der ich jene eigentümliche durchdringende Geistesschärfe verdanke, die mir einige Geheimnisse unserer Doppelnatur enthüllt hat. Ich drehte dem Tisch den Rücken zu, von dem mein zukünftiges Glück abhing, ein Glück um so tiefer vielleicht, als es verbrecherisch war; zwischen den beiden Spielern und mir befand sich eine vier oder fünf Reihen dichte Mauer aus plaudernden Menschen. Stimmengemurmel verhinderte, daß man den Klang des Goldes unterscheiden konnte, der sich mit der Musik des Orchesters mischte; doch mit der den Leidenschaften eigenen Macht, Zeit und Raum aufzuheben, hörte ich allen diesen Hindernissen zum Trotz deutlich die Worte der beiden Spieler; ich kannte ihre Stiche, ich wußte, welcher von den beiden den König aufdeckte, als ob ich die Karten gesehen hätte; kurzum, zehn Schritte von dem Spiel entfernt, erbleichte ich bei seinen unvorhergesehenen Wendungen. Mein Vater ging plötzlich an mir vorbei, und da verstand ich das Wort der heiligen Schrift: »Der Geist Gottes ging an ihm vorüber!« Ich hatte gewonnen. Behend wie ein Aal, der durch die zerrissene Masche eines Netzes entkommt, schlängelte ich mich hurtig durch das die Spieler umwogende Gedränge zum Tisch. Die schmerzhafte Anspannung meiner Nerven löste sich in Freude auf. Ich fühlte mich wie ein Verurteilter, der auf dem Wege zum Richtplatz dem König begegnet ist. Zufällig fehlten einem ordensgeschmückten Herrn 40 Francs, auf die er Anspruch hatte. Mißtrauische Blicke richteten sich argwöhnisch auf mich, ich erbleichte, und Schweißtropfen perlten von meiner Stirn. Das Verbrechen, meinen Vater bestohlen zu haben, schien mir gerächt. Da sagte der gute dicke kleine Mann mit einer wahrhaft engelgleichen Stimme: »Diese Messieurs hier hatten alle gesetzt«, und er bezahlte die 40 Francs. Nun erhob ich meine Stirn wieder und warf triumphierende Blicke auf die Spieler. Nachdem ich die der Börse meines Vaters entwendeten Goldstücke wieder ersetzt hatte, ließ ich meinen Gewinn bei dem würdigen, biederen Herrn stehen, dessen Glückssträhne anhielt. Als ich 160 Francs besaß, wickelte ich sie in mein Taschentuch, so daß sie auf unserem Nachhauseweg nicht aneinander klingen konnten, und spielte nicht mehr. – »Was haben Sie beim Spiel gemacht?« fragte mein Vater mich, als wir in die Droschke stiegen. – »Ich sah zu«, antwortete ich zitternd. – »Nun«, fuhr mein Vater fort, »es wäre nicht schlimm gewesen, wenn Sie sich aus Eigenliebe hätten dazu verleiten lassen, auch einen kleinen Einsatz zu wagen. In den Augen der Welt scheinen Sie alt genug, um Dummheiten begehen zu dürfen. Auch würde ich es entschuldigen, Raphael, wenn Sie sich meiner Börse bedient hätten . . .« Ich antwortete nicht. Zu Hause gab ich meinem Vater seine Schlüssel und sein Geld zurück. Er ging in sein Zimmer, leerte die Börse auf dem Kaminsims, zählte das Geld, wandte sich mit einer recht liebenswürdigen Miene zu mir und sagte, wobei er nach jedem Satz eine mehr oder minder lange, bedeutsame Pause einlegte: »Mein Sohn, Sie sind nun bald zwanzig Jahre alt. Ich bin mit Ihnen zufrieden. Sie brauchen ein Taschengeld, sei es auch nur, Sie sparen und die Dinge des Lebens kennen zu lehren. Von heute ab gebe ich Ihnen 100 Francs monatlich. Sie können darüber verfügen, wie es Ihnen beliebt. Hier ist das Geld für die ersten drei Monate«, fügte er hinzu, indem er mit der Hand sacht über eine Rolle Goldes fuhr, als wollte er die Summe nochmals überprüfen. Ich gestehe, daß ich nahe daran war, mich ihm zu Füßen zu werfen, ihm zu bekennen, daß ich ein Dieb, ein Nichtswürdiger, und . . . schlimmer als das, ein Lügner wäre. Die Scham hielt mich davon ab. Ich wollte ihn umarmen, er schob mich sanft zurück. – »Du bist jetzt ein Mann, mein Kind«, sagte er zu mir. »Was ich tue, ist einfach gerecht, wofür du mir nicht zu danken hast. Wenn ich ein Recht auf Ihre Dankbarkeit habe, Raphael«, fuhr er mit einem sanften, aber würdevollen Ton fort, »so ist es dafür, daß ich Ihre Jugend vor den Gefahren bewahrt habe, denen alle jungen Leute in Paris zum Opfer fallen. Von jetzt an werden wir Freunde sein. In einem Jahr sind Sie Doktor der Rechte. Sie haben sich, nicht ohne einige Unannehmlichkeiten und mancherlei Entbehrungen, solide Kenntnisse und die Liebe zur Arbeit angeeignet, unentbehrlich für Männer, die zu leitenden Stellungen berufen sind. Lernen Sie auch mich kennen, Raphael! Ich will aus Ihnen weder einen Advokaten noch einen Notar machen, sondern einen Staatsmann, der dereinst der Ruhm unseres bescheidenen Hauses werden möge. Auf morgen!« fügte er hinzu und verabschiedete mich mit einer vielsagenden Gebärde. Von dem Tage an weihte mein Vater mich freimütig in alle seine Pläne ein. Ich war der einzige Sohn, und ich hatte meine Mutter schon vor zehn Jahren verloren. Mein Vater, Haupt eines alten, fast vergessenen Adelsgeschlechts aus der Auvergne, [Fußnote] fand das Recht, mit dem Degen an der Seite seinen Kohl anzubauen, wenig schmeichelhaft und war seinerzeit nach Paris gekommen, um da den Kampf mit dem Teufel aufzunehmen. Begabt mit jener feinen Schläue, die, wenn sie mit Energie gepaart ist, die Männer aus dem Süden Frankreichs so überlegen macht, war es ihm ohne besondere Unterstützung gelungen, im Herzen der Macht eine Position zu erringen. Bald darauf vernichtete die Revolution sein Vermögen; er hatte es jedoch verstanden, die Erbin eines großen Hauses zu heiraten, und hatte sich unter dem Kaiserreich in der Lage gesehen, unserem Haus seinen einstigen Glanz wiederzugeben. Die Restauration, [Fußnote] welche meiner Mutter beträchtliche Güter zurückgab, ruinierte meinen Vater. Da er ehemals mehrere im Ausland gelegene Güter gekauft hatte, die der Kaiser seinen Generalen geschenkt hatte, schlug er sich seit zehn Jahren mit Liquidatoren und Diplomaten, mit preußischen und bayerischen Gerichtshöfen herum, um sich den umstrittenen Besitz der unglückseligen Schenkungen zu erhalten. Mein Vater stürzte mich in das unentwirrbare Labyrinth dieses weitreichenden Prozesses, von dem unsere Zukunft abhing. Man konnte uns verurteilen, die Einkünfte, sowie den Preis für bestimmte Holzschläge, die von 1814 bis 1816 erfolgt waren, zurückzuerstatten; in diesem Fall hätte das Vermögen meiner Mutter kaum gereicht, die Ehre unseres Namens zu retten. An dem Tage also, da mein Vater mich in gewisser Hinsicht selbständig gemacht zu haben schien, verfiel ich dem unerträglichsten Joch. Ich mußte wie auf einem Schlachtfeld kämpfen, Tag und Nacht arbeiten, Staatsmänner aufsuchen, ihre Meinung ausforschen, sie für unsere Sache zu interessieren suchen, ihnen, ihren Frauen, ihren Dienern, ihren Hunden schmeicheln und dieses abscheuliche Tun unter eleganten Formen, unter angenehmen Scherzen verbergen. Nun begriff ich den Kummer, der das Gesicht meines Vaters mit Runzeln gefurcht hatte. Ein Jahr lang ungefähr führte ich also scheinbar das Leben eines Mannes von Welt; aber hinter diesen Zerstreuungen und meinem Eifer, mit einflußreichen Verwandten und Leuten, die uns nützen konnten, in Verbindung zu treten, verbarg sich unendliche Mühsal. Sogar meine Vergnügungen waren noch Plädoyers und meine Gespräche Eingaben. Bis dahin war ich tugendhaft gewesen, weil es mir unmöglich war, meinen jugendlichen Leidenschaften nachzugehen; nun aber, da ich fürchtete, durch ein Versäumnis meinen und meines Vaters Ruin zu verursachen, wurde ich mein eigener Despot und gestattete mir weder ein Vergnügen noch eine Ausgabe. Wenn wir jung sind, wenn uns die Menschen und Dinge noch nicht so tief verletzt haben, daß jene zarte Blüte des Gefühls in uns zerstört ist, jene Frische des Gedankens, die edle Reinheit des Gewissens, die sich immer gegen das Böse auflehnt, fühlen wir unsere Pflichten; unsere Ehre spricht laut und fordert Gehör; wir sind offen und ohne Falsch: so war ich damals. Ich wollte das Vertrauen meines Vaters rechtfertigen. Vordem hätte ich ihm mit tausend Freuden einen jämmerlichen Betrag entwendet; aber seitdem ich die Last seiner Geschäfte, seines Namens, seines Hauses mit ihm trug, hätte ich insgeheim mein Erbe, meine Hoffnungen für ihn hingegeben, so wie ich ihm meine Vergnügungen opferte und glücklich über dieses Opfer war. Als dann auch noch Monsieur de Villèle [Fußnote] eigens für uns ein kaiserliches Dekret über den Verfall der Schenkungen ausgrub und uns damit ruiniert hatte, unterzeichnete ich den Verkauf meiner Güter und behielt nur eine wertlose, inmittten der Loire gelegene Insel, auf der sich das Grab meiner Mutter befand. Heute würde es mir wahrscheinlich nicht an Argumenten, Ausflüchten, philosophischen, philanthropischen und politischen Beweisführungen fehlen, um dem, was mein Advokat eine »Dummheit« nannte, zu entgehen; aber mit einundzwanzig Jahren sind wir, ich wiederhole es, ganz Großmut, ganz Eifer, ganz Liebe. Die Tränen, die ich in den Augen meines Vaters sah, waren damals für mich das schönste aller Güter, und die Erinnerung an diese Tränen hat mich in meinem Elend oft getröstet. Zehn Monate, nachdem mein Vater seine Gläubiger bezahlt hatte, starb er vor Gram. Er liebte mich über alles und hatte mich ruiniert; dieser Gedanke tötete ihn. Im Jahre 1826, zweiundzwanzig Jahre alt, gegen Ende des Herbstes, folgte ich ganz allein dem Sarg meines ersten Freundes, meines Vaters. Nur wenige junge Leute sind wohl je so allein mit ihren Gedanken, so verloren in Paris, ohne Zukunft, ohne Vermögen hinter einem Leichenwagen hergegangen. Die Waisen, deren sich die öffentliche Wohltätigkeit annimmt, haben wenigstens das Schlachtfeld als Zukunft, die Regierung oder den königlichen Prokurator zum Vater, das Waisenhaus als Zuflucht. Ich hatte nichts! Drei Monate später händigte mir ein Auktionator 1112 Francs aus, der Reinerlös der väterlichen Erbschaft. Gläubiger hatten mich gezwungen, unser Mobiliar zu verkaufen. Von Jugend auf daran gewöhnt, einen großen Wert auf die Luxusgegenstände zu legen, die mich umgaben, konnte ich mich nicht enthalten, ein gewisses Erstaunen über diesen geringfügigen Ertrag zu äußern. – ›Oh!‹ sagte der Auktionator, ›das war alles schon sehr 'altmodisch'!‹ Schreckliches Wort, das den Glauben meiner Kindheit zerstörte und mir die ersten Illusionen, die liebsten von allen, raubte. Mein Vermögen belegte ein Auktionsverzeichnis, meine Zukunft ruhte in einem Leinenbeutel, der 1112 Francs enthielt, die Gesellschaft erschien mir in der Gestalt eines Taxators, der den Hut aufbehielt, wenn er mit mir redete. Ein Kammerdiener namens Jonathas, der mich ins Herz geschlossen hatte und dem meine Mutter einst 400 Francs Leibrente ausgesetzt hatte, sagte zu mir, als wir das Haus verließen, aus dem ich in meiner Kindheit so oft fröhlich im Wagen fortgefahren war: »Seien Sie recht sparsam, Monsieur Raphael.« Er weinte, der gute Mann.
Dies, mein lieber Émile, sind die Ereignisse, die mein Geschick bestimmten, meine Seele formten und mich so jung noch in die schwierigste Lage brachten«, sagte Raphael nach einer Pause. »Es bestanden zwar familiäre Bande, wenngleich schwache, zu einigen reichen Häusern, doch hätte ich diese schon aus Stolz nicht betreten, wenn nicht Geringschätzung und Gleichgültigkeit mir bereits ihre Türen verschlossen hätten. Obwohl mit sehr einflußreichen Persönlichkeiten verwandt, die ihre Gunst an Fremde verschwendeten, hatte ich weder Verwandte noch Gönner. Da meine Seele, sobald sie sich aufschließen wollte, immerfort zurückgestoßen wurde, hatte sie sich ganz in sich selbst zurückgezogen. So freimütig und offenherzig ich auch war, mußte ich doch kalt und verschlossen erscheinen; die Tyrannei meines Vaters hatte mir jedes Selbstvertrauen geraubt. Ich war schüchtern, linkisch; ich glaubte nicht, daß meine Stimme das geringste Gehör finden könnte. Ich mißfiel mir, ich fand mich häßlich, ich schämte mich meines Blicks. Trotz der inneren Stimme, die begabte Menschen in ihren Kämpfen aufrechterhält und die mir zurief: ›Mut! Vorwärts!‹; trotzdem sich meine Kraft mir in der Einsamkeit plötzlich offenbarte; trotz der Hoffnung, die mich belebte, wenn ich die vom Publikum bewunderten neuen Werke mit denen verglich, die mir in meiner Phantasie vorschwebten, zweifelte ich an mir wie ein Kind. Ich war von einem übersteigerten Ehrgeiz besessen, ich glaubte mich zu großen Dingen berufen und war zur Nichtigkeit verdammt. Ich brauchte Menschen und besaß keine Freunde. Ich sollte mir einen Weg in die Welt bahnen und blieb allein, weniger aus Furcht als aus Scham. In dem Jahr, in dem mein Vater mich dem Strudel der großen Gesellschaft ausgesetzt hatte, gab ich mich ihr mit unschuldigem Herzen, mit unverdorbener Seele hin. Wie alle großen Kinder sehnte ich mich heimlich nach der Liebe. Unter den jungen Leuten meines Alters traf ich eine Clique von Großmäulern, die erhobenen Hauptes einherstolzierten, Nichtigkeiten schwätzten, sich keck zu Frauen setzten, die mir höchste Achtung einflößten, freche Reden führten, am Knauf ihres Spazierstocks kauten, sich eitel zierten und schöntaten, sich den hübschesten Frauen antrugen, in allen Schlafzimmern ein und aus gingen, es zumindest behaupteten, eine Miene zogen, als ob ihnen nichts mehr Vergnügen machte, die tugendhaftesten und züchtigsten Frauen für leichte Beute hielten, die man mit einem albernen Wort, der kleinsten gewagten Geste oder dem ersten dreisten Blick erobern könne! Ich schwöre es dir auf Ehre und Gewissen: es schien mir weniger schwer, politische Macht oder großes literarisches Ansehen zu erringen als den Erfolg bei einer geistreichen und anmutigen jungen Dame aus obersten Kreisen. So standen also die Wirren meines Herzens, meine Empfindungen, mein Bedürfnis, anzubeten, im Widerspruch zu den Grundregeln der Gesellschaft. Kühn war nur meine Seele, nicht mein Auftreten. Später habe ich gemerkt, daß Frauen nicht gebettelt werden wollen; ich sah viele, die ich von ferne anbetete, denen ich ein Herz entgegenbrachte, zu jeder Probe bereit, eine Seele zum Zerreißen und eine Glut, die vor keinen Opfern und keinen Martern zurückgeschreckt wäre; sie aber gehörten jämmerlichen Tröpfen an, die ich nicht einmal als Portiers gewollt hätte. Wie oft habe ich nicht stumm und regungslos die Frau meiner Träume bewundert, wenn sie auf einem Ball vor mir auftauchte; und während ich dann in Gedanken mein ganzes Dasein nicht endenwollender Zärtlichkeiten für sie weihte, legte ich all meine Hoffnungen in einen Blick und bot ihr in meiner Hingerissenheit die Liebe eines Jünglings dar, die über Täuschungen erhaben ist. In manchen Augenblicken hätte ich mein Leben für eine einzige Nacht hingegeben. Aber nie fand ich Ohren, in die ich meine leidenschaftlichen Worte stammeln, nie ein Auge, in das mein Blick sich senken konnte, nie ein Herz für mein Herz, und so durchlebte ich alle Qualen einer ohnmächtigen Glut, die sich selbst verzehrte; sei es aus Mangel an Kühnheit oder an Gelegenheiten, oder sei es aus Unerfahrenheit. Vielleicht verzweifelte ich daran, daß ich mich nicht verständlich machen könnte, oder ich fürchtete, zu gut verstanden zu werden. Und dabei drohte jeder freundliche Blick, den man mir gönnte, einen Sturm in mir zu entfesseln. Doch trotz meiner Bereitschaft, einen solchen Blick oder scheinbar herzliche Worte als zarte Aufforderung zu deuten, wagte ich nie, zur rechten Zeit zu sprechen oder zu schweigen. Allzu starkes Gefühl ließ meine Worte nichtssagend werden und mein Schweigen albern. Fraglos war ich zu naiv für eine derart überfeinerte Gesellschaft, die in Glanz und Herrlichkeit lebt und alle ihre Gedanken in konventionelle Phrasen oder Modewörter kleidet. Ich verstand weder beredt zu schweigen, noch redend zu verschweigen. Kurz, ich trug ein Feuer in mir, das mich verbrannte; ich hatte ein Herz, wie es die Frauen zu finden wünschen, war so glühend und hingebungsvoll, wie sie es ersehnen; ich besaß die Energie, deren die Tröpfe sich nur rühmen – und doch haben mich alle Frauen aufs grausamste verraten. Kein Wunder, daß ich die Helden jener Clique ganz naiv bewunderte, wenn sie mit ihren Triumphen prahlten, und keineswegs argwöhnte, daß sie lügen könnten. Es war ohne Zweifel töricht von mir, auf bloße Worte hin Liebe zu begehren, im Herzen einer frivolen und leichtsinnigen, auf Luxus erpichten, von Eitelkeit trunkenen Frau, die gewaltige Leidenschaft zu erhoffen, den stürmischen Ozean, der in meinem eigenen Herzen brandete. Oh, sich geboren fühlen, um zu lieben, um eine Frau glücklich zu machen, und keine finden, nicht einmal eine mutige und edle Marceline [Fußnote] oder irgendeine alte Marquise! Wenn man Schätze in einem Bettelsack trägt und kein Kind, kein neugieriges Mädchen findet, das sie bewundern will! Ich habe mich oft aus Verzweiflung umbringen wollen.«