»Sie wünschen das Bild Jesu von Raffael zu sehen, Monsieur?« fragte der Greis ihn höflich mit einer Stimme, deren heller, knapper Klang etwas metallisches hatte.
Und er stellte die Lampe auf den Schaft einer abgebrochenen Säule, so daß der braune Kasten im hellen Licht stand.
Bei den heiligen Namen Jesus Christus und Raffael entfuhr dem jungen Manne eine Bewegung der Neugierde, die der Kaufmann, der eine Feder in Gang setzte, erwartet zu haben schien. Sofort glitt die Mahagoniplatte in einer Nut lautlos abwärts und bot die Leinwand der Bewunderung des Unbekannten dar. Beim Anblick dieses unsterblichen Werkes vergaß er die Phantasiegebilde im Laden und die Ausgeburten seines Schlummers, wurde wieder Mensch, erkannte in dem Alten ein Geschöpf aus Fleisch und Blut, das recht lebendig und keineswegs ein Trugbild war, und lebte wieder in der wirklichen Welt. Die liebevolle Sorge, die milde Heiterkeit des göttlichen Angesichts teilten sich ihm mit. Ein dem Himmel entströmter Hauch löste die Höllenqualen, die ihm das Mark verzehrten. Der Kopf des Erlösers tauchte aus der Finsternis, die der schwarze Hintergrund vorstellte; ein Strahlenkranz umgab sein Haar, aus dem dieses Leuchten hervorzubrechen schien; von der Stirn, von den Wangen, aus allen Zügen strömte eine beredte eindringliche Überzeugung. Die tief roten Lippen hatten das Wort des Lebens verkündet, und der Betrachter lauschte auf dessen heiligen Widerhall in den Lüften, befragte die Stille nach seinen wundervollen Gleichnissen, hörte es in der Zukunft, fand es in den Lehren der Vergangenheit wieder. In der ruhigen Klarheit dieser anbetungswürdigen Augen, zu denen bekümmerte Herzen sich flüchteten, lag das ganze Evangelium. Aus seinem holden erhabenen Lächeln schließlich, das das Grundgebot: ›Liebet einander!‹ auszudrücken schien, konnte man die ganze katholische Religion herauslesen. Dieses Gemälde stimmte zur Andacht, rief zur Versöhnung auf, tötete die Selbstsucht, weckte alle schlummernden Tugenden. Gleich der Zauberkraft der Musik beschwor Raffaels Schöpfung köstliche Erinnerungen, und der Sieg des Bildes war so vollkommen, daß man den Maler vergaß. Das trügerische Licht vervollständigte das Wunder: für Augenblicke schien es, als ob der Kopf weit entfernt in einer Wolke sich bewegte.
»Ich habe für dieses Bild ein Vermögen hingegeben«, sagte der Händler kühl.
»Nun denn, jetzt heißt es sterben!« rief der junge Mann, der aus seiner Versunkenheit auffuhr; sein letzter Gedanke hatte ihn über eine Kette ihm kaum bewußter Überlegungen von einer letzten Hoffnung, an die er sich geklammert hatte, zu seinem unseligen Geschick zurückgeführt.
»Aha! Also hatte ich doch recht, dir zu mißtrauen!« stieß der Alte hervor, packte die Hände des jungen Mannes und preßte sie mit einer Hand an den Handgelenken zusammen wie mit einem Schraubstock.
Der Unbekannte lächelte traurig über dieses Mißverständnis und sagte sanft: »Fürchten Sie nichts, Monsieur, es handelt sich um mein Leben, nicht um das Ihre. Warum soll ich eine harmlose List nicht eingestehen?« fuhr er fort, da er die Unruhe des Alten bemerkte. »Ich wollte die Nacht abwarten, um mich, ohne Aufsehen, ertränken zu können, und bin hierhergekommen, Ihre Schätze zu besichtigen. Wer wird einem Mann der Wissenschaft und Poesie dieses letzte Vergnügen verargen?« Der mißtrauische Händler durchforschte, während er ihm zuhörte, mit scharfen Blicken das düstere Antlitz seines angeblichen Kunden. Der schmerzliche Klang der Stimme indes beruhigte ihn bald, vielleicht las er auch in den fahlen Zügen das düstere Schicksal, vor dem vorher die Spieler zurückgebebt waren, und er ließ die Hände los. Doch streckte er mit einem Rest von Argwohn, der eine mindestens hundertjährige Erfahrung verriet, den Arm nach einem Buffet aus, wie um sich aufzustützen, und langte nach einem Stilett, wobei er fragte: »Sind Sie seit drei Jahren Beamtenanwärter beim Schatzamt und haben keine Sonderzulage erhalten?«
Der Unbekannte konnte sich nicht enthalten zu lächeln, während er mit einer Gebärde verneinte.
»Hat Ihnen Ihr Vater Ihre Geburt zu heftig vorgeworfen? Oder haben Sie Ihre Ehre eingebüßt?«
»Wenn ich sie einbüßen wollte, würde ich am Leben bleiben.«