Ein Junges war anders als seine Geschwister. Deren Haarfarbe verriet schon den rötlichen, von der Mutter ererbten Schimmer, während es als das einzige wirklich graue Junge dem Vater glich. Es war ein richtiger Wolf, ein echter Sohn des alten Einauge in seinem Äußeren. Noch als seine Augen geschlossen waren, hatte es gefühlt, geschmeckt, gerochen. Es kannte die beiden Brüder und die beiden Schwestern und hatte schon angefangen, mit ihnen zu tollen und sich mit ihnen zu zanken. Wenn es wütend wurde, erzitterte ein drolliger Ton in seiner Kehle, ein Ton, der später zum Grollen werden sollte.
Auch hatte es, lange bevor seine Augen sich öffneten, gelernt, durch Berührung, Geschmack und Geruch die Mutter zu erkennen, die für ihn eine Quelle von Wärme, von flüssiger Nahrung und Zärtlichkeit war. Sie hatte eine sanfte, liebkosende Zunge, die ihm wohltat, wenn sie sein weiches Körperchen berührte. Bevor das Wolfsjunge einschlief, schmiegte es sich dicht an sie.
Die ersten vier Wochen verbrachte es größtenteils schlafend. Dann blieb es länger wach und lernte die Welt, die es umgab, kennen. Diese Welt war düster und sehr klein. Ihre Grenzen waren die Wände der Höhle. Da es aber die große Welt draußen nicht kannte, bedrückte es die Enge seines Daseins nicht.
Der Eingang der Höhle übte eine große Anziehungskraft auf das Wölflein aus. Von Anfang an krochen es und seine Geschwister zu dieser Stelle hin. Das Licht zog sie immer wieder an, aber die Mutter trieb sie zurück. Dabei entdeckte das graue Junge noch andere Seiten seiner Mutter. Sie hatte eine Nase, die ihm durch einen scharfen Puff einen Verweis erteilte, und auch eine Pfote, die sich ihm auflegte und ihn umkegelte. So lernte es, was wehtat und auch, wie man das vermeiden konnte, indem man seitwärts oder rückwärts auswich.
Es war wie seine Geschwister ein kleines, wildes Tier. Im Alter von vier Wochen, wenige Tage nachdem seine Augen sich geöffnet hatten, fing es an, Fleisch zu fressen, halbverdautes, das die Wölfin für die fünf Jungen ausspie.
Das graue Wölflein war das stärkste und wildeste von allen Jungen. Es konnte lauter grollen und knurren als sie. Seine Wutanfälle waren toller als die ihren. Es lernte zuerst, wie man ein Junges mit einem schlauen Streich der Pfote um und um kehren konnte. Es zerrte und riss ein anderes am Ohr, während es durch die zusammengebissenen Zähne knurrte.
Mit jedem Tag wuchs der Zauber des Lichtes für das graue Junge. Ständig wollte es am Eingang zur Höhle auf Abenteuer ausgehen, aber immer wurde es zurückgetrieben. Allerdings wusste es nicht, dass diese Stelle ein Eingang war, für ihn war es eine besondere, eine leuchtende Wand, die Sonne seiner Welt.
Es war doch etwas höchst Seltsames um diese Wand! Der Vater, der nah an diesem Licht schlief und Nahrung brachte, hatte die sonderbare Gewohnheit, durch diese Wand zu verschwinden. Das konnte das graue Wölflein nicht begreifen. Ihm tat es weh, wenn es mit seiner Nase gegen eine der Wände stieß. Wie konnte der Vater dann durch eine Wand verschwinden?
Wie die meisten Geschöpfe der Wildnis lernte es früh den Hunger kennen. Es kam eine Zeit, wo es an Fleisch mangelte und auch die Milch der Mutter versiegte. Zuerst winselten und schrien die Jungen und dann schlummerten sie meistens. Es gab kein Spiel mehr, keinen Zank, keine Wutanfälle und keinen Versuch zu knurren.
Einauge war der Verzweiflung nah. Er suchte weit und breit, er schlief nur noch wenig in der Höhle. In den ersten Tagen nach der Geburt der Jungen war er mehrmals zum Indianerlager hingewandert und hatte Kaninchen aus den Schlingen gestohlen. Aber als der Schnee schmolz, zogen die Indianer weiter.
Als das graue Junge wieder ins Leben zurückkehrte, war nur noch eins seiner Geschwister übrig, und auch diese letzte Schwester lief bald nicht mehr herum und hob nicht einmal mehr den Kopf. Die Nahrung kam für sie zu spät, und bald schlief sie für immer ein.
Dann kam eine Zeit, in der das graue Wölflein den Vater nicht mehr in der Wand erscheinen und verschwinden sah, wo er sich nicht am Eingang zum Schlafe niederlegte. Dies geschah am Ende einer zweiten Hungersnot. Die Wölfin wusste, warum Einauge nicht zurückgekommen war. Als sie selbst nach Beute ausgegangen war, hatte sie dort, wo die Luchsin wohnte, Einauges einen Tag alte Spur gefunden und an ihrem Ende alles, was von ihm übrig war. Es waren da viele Zeichen eines Kampfes, der ausgefochten worden war.
Danach vermied die Wölfin diese Gegend auf ihren Jagdzügen, denn sie wusste, dass es für einen Wolf allein eine gefährliche Sache war, es mit einer Luchsin aufzunehmen, noch dazu wenn sie Junge hatte wie diese.
Aber Wildnis bleibt Wildnis, und es sollte eine Zeit kommen, wo die Wölfin sich wieder, getrieben durch ihre Mutterliebe, dorthin wagen sollte, zu dem Lager in den Felsen, zu dem Zorn der Luchsin.