Um die Zeit, als die Mutter anfing, zu ihren Jagdzügen die Höhle zu verlassen, hatte das graue Junge sich das Verbot, den Eingang zu meiden, wohl gemerkt. Es hatte die Furcht von allen Generationen Wölfen, die vor ihm gelebt hatten, geerbt.
War die Mutter abwesend, so schlief es die meiste Zeit. In den Zwischenzeiten verhielt es sich ruhig und unterdrückte jeden winselnden Ton.
Als es einmal so wach dalag, hörte es in der hellen Wand einen seltsamen Ton. Es wusste nicht, dass draußen ein Vielfraß stand und vorsichtig den Inhalt der Höhle beschnupperte. Das Wölflein wusste nur, dass der Ton seltsam klang, wie etwas, was es noch nie gehört hatte. Darum war es voller Schrecken, denn das Unbekannte flößte ihm Furcht ein.
Das Haar auf seinem Rücken richtete sich lautlos empor. Das Wölflein war außer sich vor Schreck, aber es blieb regungslos und still, als ob es versteinert oder tot wäre.
Als die Mutter heim kam, knurrte sie, als sie die Spur des Vielfraßes fand. Sie eilte in die Höhle und leckte und liebkoste ihr Junges voll ungewöhnlicher Zärtlichkeit. Dieses fühlte, dass es einer großen, unbekannten Gefahr entgangen war.
Aber die wachsende Lebenskraft und seine zunehmende Stärke ließen sich nicht mehr eindämmen. Sie stiegen mit jedem Bissen, den es aß, mit jedem Atemzug, den es tat. Am Ende wurden die Furcht und der Gehorsam eines Tages weggefegt, und das Wölflein schritt wackelnd und breitbeinig dem Eingang zu. Diese Wand tat ihm nicht weh. Das Material schien, ebenso wie das Licht, zurückzuweichen. Es war höchst seltsam. Das Licht wurde immer heller, und plötzlich befand er sich am Rand der Höhle. Das Licht wurde blendend, und die Ausdehnung des Raumes machte es schwindlig.
Nach und nach gewöhnten sich jedoch seine Augen daran. Seine Umgebung war jetzt bunt, Bäume umgaben einen Fluss, über den Bäumen war ein Berg und über dem Berg der Himmel.
Eine große Furcht überkam es. Das Wölflein kauerte sich am Rande der Höhle nieder und schaute auf die Welt. Es ängstigte sich sehr, denn vor ihm war das Unbekannte, und das war sein Feind. Aber es passierte nichts und so verdrängte nach einer Weile die Neugier seine Furcht. Es sah eine eisfreie Stelle im Fluss, die im Sonnenschein glitzerte und einen vom Blitz zerschmetterten Tannenbaum am Ufer.
Nun schritt es kühn in die Luft hinaus. Aber seine Hinterbeine rutschten noch auf dem Rand der Höhle aus, und es fiel kopfüber den Abhang hinunter. Die Erde gab ihm einen tüchtigen Schlag auf die Nase, und es schrie jämmerlich. Die Furcht verjagte wieder all seine Kraft und Stärke, und es winselte wie ein erschrockenes Hündchen.
Dann leckte es sein graues Körperchen von der Erde, die es verschmutzt hatte, rein. Schließlich setzte es sich aufrecht und schaute umher und vergaß wieder alle Schrecken. Es fühlte nur Neugier. Es besah sich das Gras zu seinen Füßen, die Moosbeerenstaude dicht neben sich, den toten Stamm der vom Blitz getroffenen Tanne am Rande eines freien Platzes. Ein Eichhörnchen kam plötzlich auf das Wölflein zu und jagte ihm große Angst ein. Es duckte sich und knurrte. Das Eichhörnchen war aber ebenso erschrocken und sprang an einem Stamm hinauf.
Dies erhöhte den Mut des Wölfleins. Die nächsten Erfahrungen mit einem Specht und einem Häher waren nicht so gut. Der Häher versetzte ihm einen scharfen Schnabelhieb auf die Nase, dass es sich duckte und schrie.
Er fand lebende und leblose Dinge und begriff, dass man sich vor den lebendigen in Acht nehmen muss. Es kam nur ungeschickt vorwärts. Der Boden war uneben, und es fiel entweder auf seine Nase oder stolperte über seine Füße. Kleine Steine glitten unter seinen Füßen weg und mit der Zeit lernte es, seine Muskelbewegungen zu berechnen.
Es hatte Glück und stieß bei seinem ersten Streifzug durch die Welt auf Fleisch. Als es auf dem umgestürzten Stamm einer Tanne entlang wanderte, gab die vermoderte Rinde unter seinen Füßen nach und mit einem Geheul der Verzweiflung purzelte es durch die Zweige und Blätter eines kleinen Busches mitten unter sieben junge Schneehühnchen. Diese schrien laut und es erschrak. Dann sah es, dass sie klein waren, und das machte es kühner. Das Wölflein legte die Pfote auf eines von ihnen und nahm es in den Mund. Es zappelte und kitzelte ihm die Zunge. Nun verspürte es seinen Hunger. Seine Kinnbacken schlossen sich fester, es hörte, wie zarte Knochen prasselten, es fühlte, wie warmes Blut ihm in den Mund lief, und das schmeckte gut. Das war Fleisch, wie es die Mutter ihm gab, nur ganz frisch und darum besser.
So verzehrte es die ganzen Schneehühnchen, leckte sich das Mäulchen und wollte aus dem Busch kriechen. Da traf das Wolflein ein heftiger Angriff der Schneehuhnmutter. Es steckte den Kopf zwischen die Pfoten und schrie jämmerlich. Die Schneehuhnmutter schlug immer ärger mit den Flügeln. Da wurde es auch böse. Es hob den Kopf, knurrte und schlug mit der Pfote zu. Seine winzigen Zähnchen ergriffen einen Flügel und rissen mit aller Macht daran. Das Schneehuhn wehrte sich, aber das Wölflein war von seinem ersten Kampf begeistert. Es fürchtete sich nicht mehr. Es kämpfte gegen ein lebendiges Wesen, das Fleisch war. Die Lust zu töten regte sich in ihm. Nach einer Weile stellte das Schneehuhn seinen Kampf ein. Beide lagen auf der Erde und schauten einander an. Dann hieb ihm das Schneehuhn mit dem Schnabel auf die Nase. Zuerst hielt es dessen Flügel noch fest, aber schließlich verging ihm die Kampfeslust. Es ließ die Beute fahren, drehte ihr den Rücken und rannte davon.
An der anderen Seite der Lichtung legte es sich nieder. Die Zunge hing ihm aus dem Halse, seine Brust hob und senkte sich keuchend, und es winselte, da die Nase noch immer wehtat.
Wie es so dalag, überkam es plötzlich das Gefühl, als ob etwas Schreckliches hereinbräche. Instinktmäßig kroch es in den Schutz des Gebüsches, als es ein heftiger Luftzug traf. Ein großer Habicht war vom Himmel herabgestoßen und hatte das Wölflein nur knapp verfehlt.
Während es sich im Gebüsch von seinem Schreck erholte, sah es, wie der Habicht abermals vom Himmel stieß und das in dem Moment unachtsame Schneehuhn schnappte. Das war ihm eine Lehre und Warnung für sein Leben.
Als das Wölflein sein Versteck verließ, hatte es viel gelernt. Lebendiges war Beute und schmeckte gut, aber wenn es groß war, konnte es auch Schmerzen verursachen. Darum war es besser, kleine Geschöpfe zu verzehren und die großen in Ruhe zu lassen.
Nun lief es zum Fluss hinunter. Noch nie hatte das Wölflein eine Wasserfläche gesehen. Es trat kühn darauf, aber sogleich ging es unter und schrie vor Angst. Es schnappte nach Luft, aber Wasser füllte ihm die Lungen. Es kam wieder an die Oberfläche, und die sanfte Luft strömte ihm in den geöffneten Mund. Wie aus alter Gewohnheit arbeitete es mit allen vieren und schwamm.
Das Ufer, von dem es gekommen war, befand sich kaum einen Meter weit entfernt, aber es lag hinter ihm. So schwamm es zu dem gegenüberliegenden, das vor ihm lag. Mitten im Wasser ergriff die Strömung das kleine Tier und zog es stromabwärts in eine winzige Stromschnelle. Das Wasser wurde auf einmal ganz toll. Es drehte das Wölflein bald auf den Rücken, bald auf den Bauch und schleuderte es mal gegen einen Stein und mal gegen einen Felsen. Jedes mal schrie es kläglich auf.
Unterhalb der Stromschnelle befand sich ein Becken, wo es vom Wasser ans Ufer getragen wurde. Es kroch in wahnsinniger Angst vom Wasser weg und legte sich nieder. Wieder hatte es etwas gelernt. Das Wasser war zwar nicht lebendig, aber es bewegte sich doch. Es sah fest aus und war es doch nicht. Also waren die Dinge nicht immer das, was sie schienen.
Plötzlich wünschte sich das Wölflein seine Mutter her. Sein Körper war matt, und sein kleines Hirn war müde. Es wollte zur Höhle zurückkehren und schlafen.
Es schritt zwischen den Büschen dahin, als es einen scharfen, drohenden Schrei vernahm. Etwas Gelbliches schoss blitzschnell an seinen Augen vorüber, und es sah ein Wiesel hinweg springen. Da es nur ein kleines Geschöpf war, hatte das Wölflein keine Furcht. Da erblickte es dicht vor seinen Füßen ein noch viel kleineres Wiesel. Es versuchte zu fliehen, aber der kleine Wolf drehte es mit der Pfote um und um. Das Junge stieß schrille Schreie aus, und plötzlich fühlte der Wolf die scharfen Zähne der Wieselmutter in seinem Fleisch.
Er schrie auf und kroch rückwärts. Die Wieselmutter sprang auf ihr Junges zu und verschwand mit ihm im Dickicht.
Der Biss am Hals schmerzte. Das Wölflein musste noch lernen, dass ein Wiesel trotz seiner Kleinheit und seines geringen Gewichtes der blutdürstigste, rachsüchtigste und schrecklichste Mörder der Wildnis ist.
Es winselte noch, als die Wieselmutter wieder erschien. Sie näherte sich ihm vorsichtig, stieß ein drohendes Geschrei aus, machte schließlich einen Satz und hing ihm an der Kehle. Ihre Zähne bohrten sich durch sein Fell ins Fleisch.
Zuerst knurrte das Wölflein und setzte sich zur Wehr, aber es war noch sehr jung und dies war sein erster Tag in der Wildnis. Es wollte flüchten, aber das Wiesel ließ nicht locker. Es hielt fest und wollte mit seinen Zähnen die große Schlagader erreichen.
Damit wäre das Leben des kleinen Wolfes zu Ende gewesen, wenn nicht die Wölfin durch das Gebüsch gesprungen wäre. Da wollte das Wiesel der Wölfin an die Kehle springen, aber diese schnappte es, schlenkerte es hin und her und schließlich zermalmten ihre Zähne den dünnen, gelben Körper.
Nun spielte sich eine Szene voller Zärtlichkeit zwischen der Wölfin und dem grauen Jungen ab. Die Freude der Mutter, ihr Kind wieder zu finden, war riesengroß. Sie liebkoste es mit der Schnauze und leckte ihm die Wunden. Dann verzehrten sie zusammen das Wiesel und gingen zur Höhle, um zu schlafen.