Zwei Tage lang umkreisten die Wölfin und Einauge das Indianerlager. Als eines Morgens jedoch dicht neben ihnen der Knall einer Büchse ertönte und die Kugel nur knapp neben Einauges Kopf in den Stamm eines Baumes einschlug, wanderten sie hinweg, bis viele Meilen sie von der Gefahr trennten.
Die Wölfin war allerdings schwerfälliger geworden und konnte nur langsam laufen. Das Verlangen nach dem, was sie suchte, wurde immer größer. Einmal gab sie die Verfolgung eines Kaninchens auf, das sie sonst mit Leichtigkeit gefangen hätte, und legte sich nieder um zu ruhen. Einauge kam zu ihr, aber als er ihr leise mit der Schnauze den Hals berührte, schnappte sie wild nach ihm. Er wurde immer geduldiger und fürsorglicher, je größer ihre Heftigkeit war.
An einem Nebenflüsschen des Mackenzie fand sie endlich, was sie suchte. Dorthin war sie müde weitergetrabt, der Gefährte stets eine Strecke voraus. Die Frühlingsstürme und die Schneeschmelze hatten das Ufer an einer Stelle unterwaschen und aus einer engen Spalte eine kleine Höhle gemacht.
Vor der Öffnung der Höhle machte sie halt und sah sich die Umgebung genau an. Dann kroch sie durch die enge Öffnung in die Höhle, deren Wände eine kleine, runde Kammer bildeten. Die Decke war dicht über ihrem Kopf, aber der Raum war trocken und behaglich. Einauge stand am Eingang und beobachtete sie geduldig.
Dann legte sich die Wölfin nieder, die Beine ausgestreckt und den Kopf auf den Eingang gerichtet. Die gespitzten Ohren legte sie zurück, öffnete das Maul, so dass die Zunge lang heraushing und zeigte dadurch, wie zufrieden und glücklich sie war. Einohr wedelte gutmütig mit dem Schweif.
Er legte sich am Eingang nieder und spürte, dass der Frühling in der Welt des Nordens erwachte. Die Sonne schien, und die Knospen an den Bäumen brachen den Bann des Winters.
Der Wolf hatte Hunger. Er warf der Gefährtin bittende Blicke zu, aber sie hatte nicht den Wunsch aufzustehen. Er blickte hinaus und sah einige Schneehühner vorüber fliegen, doch legte er sich wieder nieder. Als aber eine Mücke über seiner Nasenspitze summte, konnte er nicht länger widerstehen. Er kroch zur Wölfin und versuchte, sie zum Aufstehen zu bewegen, aber sie knurrte ihn nur an.
So wanderte er allein in den hellen Sonnenschein hinaus. Er wanderte stundenlang, kehrte in der Dämmerung aber noch hungriger zurück, denn er hatte zwar Wild gesehen, allerdings nichts erwischt.
Plötzlich blieb er misstrauisch am Eingang der Höhle stehen. Schwache, seltsame Laute waren von drinnen vernehmbar, die jedoch nicht von der Wölfin kamen. Vorsichtig kroch er hinein und wurde durch ein warnendes Knurren von der Wölfin begrüßt. Trotzdem interessierten ihn die Töne. Die Wölfin ließ wieder das Knurren hören, worauf er sich zusammenrollte und am Eingang der Höhle zur Ruhe legte.
Als der Morgen anbrach, untersuchte er aufs Neue, woher die ihm unbekannten Töne kommen. Er entdeckte zwischen ihren Beinen und dem Körper fünf drollige, lebende Bündelchen, die sehr schwach und hilflos erschienen und leise winselten. Ihre Augen waren noch nicht geöffnet.
Die Wölfin sah ihn ängstlich an. Aus Instinkt, aus der Erfahrung der Wolfsmütter wusste sie, dass Väter ihre neugeborenen Nachfahren zuweilen gefressen hatten. Deshalb versuchte sie zu verhindern, dass Einauge den Jungen zu nahe käme. Aber von Einauge drohte keine Gefahr. Er empfand es als etwas ganz Natürliches, drehte seiner jungen Familie den Rücken und begab sich auf Jagd nach Beute für sich und die Seinen.
Acht bis zehn Kilometer von der Höhle entfernt vernahm sein scharfes Ohr das Geräusch nagender Zähne. Er ging langsam darauf los und fand ein Stachelschwein, das die Rinde eines Baumes mit seinen Zähnen bearbeitete. Einauge näherte sich vorsichtig, aber ohne Hoffnung auf Erfolg. Allerdings konnte man nie wissen, was geschehen würde.
Als Einauge angriff, rollte sich das Stachelschwein zu einem Ball zusammen und streckte die langen, scharfen Stacheln nach allen Richtungen aus, um den Angriff abzuwehren. Einauge duckte sich nieder und wartete geduldig. Vielleicht würde sich das Stachelschwein wieder ausrollen und dann war eine gute Gelegenheit. Nach einer halben Stunde erhob er sich jedoch, knurrte zornig den regungslosen Ball an und trabte weiter.
Die Zeit verging und seine Suche blieb unbelohnt. Der Trieb der erwachten Vaterliebe war mächtig in ihm. Er musste Speise finden! Am Nachmittag stieß er auf ein Schneehuhn, das nicht drei Fuß von ihm entfernt auf einem Baumstamm saß, als er aus dem Dickicht kam. Einauge schlug mit der Pfote nach ihm, warf es zu Boden, sprang darauf los und packte es mit den Zähnen. Als er das zarte Fleisch und die weichen Knochen durchbiss, bekam er Lust, die Beute zu verzehren. Aber er entschied sich anders, kehrte um und lief mit dem Schneehuhn im Maul heim.
Auf dem Rückweg sah er eine große Fußspur, die er schon am Morgen entdeckt, aber nicht verfolgt hatte. Jetzt ging er ihr nach. Als er einmal den Kopf um eine Felsecke streckte, erspähte sein schnelles Auge etwas, das ihn rasch niederducken ließ. Die Spuren rührten von einer großen Luchsin her, die jetzt geduckt vor der zusammengerollten Stachelkugel lag. Er kroch behutsam näher, legte das Schneehuhn neben sich in den Schnee und duckte sich nieder. So kauerte der alte Wolf im Versteck und wartete auf einen glücklichen Zufall, der ihm vielleicht auf der Jagd nach Beute helfen würde.
Eine halbe Stunde verstrich, dann noch eine, und nichts ereignete sich. Dann ging plötzlich etwas vor. Das Stachelschwein hatte endlich angenommen, dass der Feind fort sei. Langsam und vorsichtig rollte es den undurchdringlichen Panzer auf. Einauge lief das Wasser im Munde zusammen, der Speichel tropfte herab.
Die Luchsin schlug mit Blitzesschnelle zu. Ihre Pfote mit den ausgestreckten Krallen schoss nach dem weichen Bauche hin, kratzte und zog sich dann rasch zurück. Doch bevor sie sich ganz zurückziehen konnte, schoss das Stachelschwein durch eine Seitenbewegung des Schwanzes scharfe Stacheln hinein. Der wütende Schmerz der Luchsin ließ sie jede Vorsicht vergessen. Wild sprang sie auf das Geschöpf los, das sie verletzt hatte, und diesem gelang es noch einmal, mit dem Schwanz nach der großen Katze zu schlagen. Prustend zog sie sich zurück, da ihre Nase voller Stacheln steckte. Sie sprang in rasender Angst und im Schmerz umher. Dann legte sie sich ein paar Minuten ruhig hin.
Einohr beobachtet sie, wie sie schließlich, von Schmerzen gequält, aufsprang und in Richtung des Flusses lief.
Vorsichtig wagte er sich aus seinem Versteck heraus. Das Stachelschwein begrüßte ihn mit wütendem Gequiek und schlug drohend die langen Zähne zusammen. Es versuchte sich wieder zusammenzurollen, aber durch die Verletzungen gelang ihm das nicht mehr. Einauge leckte den blutbefleckten Schnee, und sein Hunger wuchs mächtig. Er hatte aber schon zu lange gelebt, um die Vorsicht außer Acht zu lassen.
Er legte sich hin und wartete. Nach einer Weile bemerkte er, dass sich die Stacheln heftig zitternd senkten. Dann klappten die langen Zähne noch einmal zusammen, die Stacheln sanken vollends, der Körper streckte sich und bewegte sich schließlich nicht mehr.
Vorsichtig streckte Einauge das Stachelschwein mit der Pfote der Länge nach aus und drehte es auf den Rücken. Es war wirklich tot. Er packte es mit den Zähnen und trabte los. Plötzlich besann er sich auf etwas, legte die Beute nieder, trabte zu dem Schneehuhn zurück und verzehrte dieses sogleich. Dann machte er sich wieder auf den Weg und brachte die Beute des Tages zur Höhle.
Die Wölfin besah sie sich genau und leckte ihm dann leicht den Nacken. Sie scheuchte ihn zwar wieder von den Jungen weg, aber ihr Knurren klang weniger rau. Die Furcht vor ihm hatte sich wieder gelegt, denn er hatte sich wie ein echter Vater benommen.