»Und wenn ich fort bin, aus der Auge, aus der Sinn, dann bin ich fremd für sie.«
»Nein, Nellie, du wirst Fräulein Raimar und Fräulein Güssow nie eine Fremde sein!« entgegnete Ilse mit vollster Ueberzeugung. »Sie haben dich furchtbar lieb!«
»O ja, ich weiß; aber sie sind nicht mehr in Jugend und werden mir nie verstehn, wie du. Sie haben vergessen, wie man ein dumm’ Streich macht! Denkst du noch an der Apfelbaum?«
Die Erinnerung an diese lustige Fahrt trocknete ihre Thränen und rief ein fröhliches Lächeln auf ihre Lippen. Jede geringe Kleinigkeit durchlebten sie in Gedanken noch einmal. Die Spukgeschichte. Miß Lead in ihrem wunderbaren Aufzuge. Die Stiefelspitze, die sie beinahe verriet, ach, und die Angst, die sie ausgestanden! – »Und es war doch schön!« rief Nellie aus, »ich wünsche, daß wir noch einmal alles machen könnten!«
»Wenn du nach Moosdorf kommst,« sagte Ilse, »dann wollen wir in die Bäume klettern nach Herzenslust! Du wirst es bald lernen! O, es wird dir bei uns gefallen! Wir haben ein großes, schönes Wohnhaus mit Türmchen und Söllern, fast wie ein Schloß. Du wirst dein Zimmer dicht neben mir haben, das ist doch reizend, nicht wahr? Ich fahre dich alle Tage mit meinen Ponies spazieren, und Hunde haben wir zum Entzücken!«
So plauderte Ilse von der Heimat und schilderte der Freundin lebhaft und feurig die dortigen Herrlichkeiten. Auf diese Weise kamen sie für den Augenblick über das Weh des Abschieds hinweg, die Aussicht auf ein nicht allzufernes Wiedersehen versüßte ihren herben Trennungsschmerz. –
Wenige Stunden später stand Ilse reisefertig vor Fräulein Raimar und sagte ihr Lebewohl. Die Vorsteherin hielt sie im Arme und redete liebevoll auf sie ein.
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»Es thut mir leid, daß dein Vater verhindert ist, dich abzuholen,« sagte sie, »nun mußt du die weite Reise allein machen! Gern hätte ich ihn auch noch einmal gesprochen und mancherlei mitgeteilt, was ich nun schriftlich thun mußte. Wie erstaunt wird er sein, wenn er dich wiedersieht, er wird die frühere Ilse gar nicht wieder erkennen! Weißt du wohl noch, wie ungern du damals zu uns kamst?«
»Verzeihen Sie mir,« bat Ilse unter Thränen, »und vergessen Sie, wenn ich Sie kränkte!«
»O, rede nicht davon! Du bist uns allen eine liebe Schülerin geworden und ungern sehen wir dich scheiden. Ich hoffe, du schreibst mir zuweilen, liebe Ilse, und giebst mir Nachricht, ob du gute Fortschritte in der Musik und besonders im Zeichnen machst. Ich habe den Papa gebeten in diesem Briefe,« sie übergab Ilse denselben, »daß er dir noch in einigen Fächern Nachhilfe geben lassen möge, besonders möge er für einen tüchtigen Lehrer im Zeichnen sorgen, da du viel Talent dazu habest.«
Fräulein Güssow trat ein und meldete, daß der Wagen vor der Thüre stehe, sie und Nellie begleiteten Ilse zur Bahn.
»Leb wohl denn, mein Kind,« sagte die Vorsteherin, »und wenn du einmal Sehnsucht nach der Pension bekommen solltest, so kehre zu uns zurück, jederzeit wirst du uns von Herzen willkommen sein.«
Im Hausflur standen die Freundinnen versammelt. Sie umringten die Scheidende und reichten ihr Blumensträuße. Natürlich küßten und herzten sie sich unter Thränen.