»Welch ein großer, ereignisvoller Tag! O, ich zittere noch, wenn ich daran denke! Mondschein! Rosenduft! Linde! Sang der Philomele! Orla hinreißend gesprochen (Meine nächste Heldin Orla heißen!) Freundschaftsbündnis! Schwur! Hochzeitsversprechen! (Meine entzückende Idee!) Handschlag darauf! Wie heißt die Hochbeglückte, die zuerst denselben löst? Schicksal, du dunkles, laß mich den Schleier heben! Giebt es Ahnungen, sollt’ ich? –«
Sie legte die Feder nieder, schloß das Buch und verbarg es tief in ihrem Kommodenkasten. Ihre Hand zitterte und ihre Gedanken verwirrten sich. Sie legte sich nieder und schlief ein. Träumend sah sie sich im Brautkranz und weißen Atlaskleide.
* * *
Die acht Wochen, oder wie Nellie sagte: »vierundfünfzig Tage«, waren vorübergegangen. Der erste September brach an. Nellie hatte die ganze Nacht nicht schlafen können vor Herzeleid, der Abschied von der geliebten Freundin raubte ihr die Ruhe. Auch Ilse war es gleich ergangen und es war rührend, wie beide Mädchen bemüht waren, ihre Schlaflosigkeit und ihre Thränen sich gegenseitig zu verbergen.
Als der Morgen anbrach, hielt Nellie es nicht mehr aus. Sie stand auf, warf ihr Morgenkleid über und schlich an Ilses Bett.
»Wachst du?« fragte sie, als dieselbe sie mit offenen Augen ansah, »das ist schön, nun können wir noch eine ganze Stunde plaudern, es hat eben Fünf geschlagen.«
Sie setzte sich auf Ilses Bettrand und ergriff deren beide Hände, und als sie aufblickte und Thränen in Ilses Augen schimmern sah, da war es aus mit ihrer künstlichen Fassung. Sie beugte sich zu der Freundin nieder und indem sich beide fest umschlungen hielten, vermischten sich ihre heißen Thränen.
[pg 208]
»O, Ilse! Wie einsam wird es sein, wenn dein Bett leer ist! Oder wenn ein anderer Gesicht mir daraus ansieht, o, ich bin sehr, sehr traurig!«
Ilse hatte sich aufgerichtet und drückte die Weinende innig an sich. Zu sprechen vermochte sie nicht, es war ihr zu weh.
»Wir sehen uns bald wieder,« sprach sie endlich mit zitternder Stimme und versuchte Nellie zu trösten. »Du besuchst uns in Moosdorf; den ganzen Winter über wirst du bei uns bleiben.«
Nellie schüttelte ungläubig den Kopf. »Das wird nix, ich werde nicht Erlaubnis bekommen zu ein so lang’ Besuch. Meine Zeit ist Ostern vorbei, dann heißt es: fort aus der Pension! Ich muß ein’ Stell’ annehmen und Kinder Unterricht geben. Aber ich weiß noch nicht viel und muß sehr fleißig lernen, Fräulein Raimar sagt es alle Tage.«
»Aber die Michaelisferien darfst du gewiß bei uns zubringen. Meine Eltern werden selbst an Fräulein Raimar schreiben und sie dringend darum bitten, sie wird es ihnen nicht abschlagen,« entgegnete Ilse.
»Es geht nicht, ich muß lernen!«
Ilse sah die Freundin traurig und bedauernd an. »Wenn du wirklich eine Gouvernante werden mußt, Nellie, so versprich mir fest, daß du all’ deine Ferien bei uns in Moosdorf zubringen willst. Meine Heimat soll auch die deinige sein.«
Mit einem Handschlage wurde dies Versprechen besiegelt. »Du bist sehr gut, Ilse, ich werde nie wieder ein Mädchen lieben wie dir. Vergiß mir nie! Sieh dieser klein’ silbern’ Ring recht oft an und denk’ dabei immer an dein’ Nellie, die in Einsamkeit zurückgeblieben ist.«