»O, welch eine klassische Geschichte!« rief Nellie. »Kommt, wir wollen gleich die fremde Dame mit ihres Kind uns ansehen!«
Und sie eilten die Treppe hinunter mit einer Hast und Neugierde, als ob ein neues Wunder aufgegangen sei, Nellie den andern immer voran, sie mußte die erste sein, die dasselbe in Augenschein nahm.
Es war aber gar nichts zu sehen, denn vorläufig verweilten die Fremden in Fräulein Raimars Zimmer. Indessen der Wagen hielt noch auf der Straße und Nellie schloß daraus, daß die Dame sich nicht allzulange aufhalten werde.
»Sehen müssen wir ihr,« sagte Nellie, »kommt, wir stellen uns an der großen Glasthür im Speisesalon und warten, bis sie kommt.«
Als sie dort eintraten, fanden sie bereits die Thür belagert. Es gab noch andre Neugierige in der Pension.
»Ihr kommt zu spät!« rief Grete, die natürlich den besten Platz hatte. »Dahinten könnt ihr nichts sehen!«
Nellie aber wußte sich zu helfen. Sie zog einen Stuhl heran und stellte sich darauf. Ilse natürlich kletterte ihr nach.
Die Geduld der Mädchen wurde auf eine harte Probe gestellt, wohl eine gute halbe Stunde mußten sie noch warten, bevor die Erwartete erschien. – Langsam und lebhaft sprechend ging sie mit der Vorsteherin an den Lauschenden vorüber. Zum Glück war es bereits dämmerig und die Damen waren so in der Unterhaltung begriffen, daß sie nicht auf die vielen Mädchenköpfe hinter der Glasthür achteten, Fräulein Raimar würde die kindische Neugierde ernstlich gerügt haben.
»O, wie sie hübsch ist!« bemerkte Nellie halblaut.
»Sei doch still, Nellie,« gebot Orla, die das Ohr dicht an der Thür hielt, um einige Worte zu erlauschen.
»Was sagt sie?« fragte Flora, »ich glaube, sie spricht französisch.«
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»Nein, italienisch,« behauptete Melanie, die nämlich seit einigen Tagen angefangen hatte, diese Sprache zu treiben.
»Sie spricht deutsch,« erklärte Grete. »Eben hat sie gesagt: Meine kleine Lilli.«
»Gott bewahre, was du gehört hast!« widerstritt Orla, »sie spricht englisch.«
»O, eine Landsmann von mir!« rief Nellie laut und erfreut.
Ueber diese drollige Bemerkung kam Annemie in das Lachen. Orla wurde ganz böse darüber und hielt ihr den Mund zu.
»Fräulein Raimar ist ja noch im Korridor mit der Dame,« flüsterte sie, »wenn sie sich umsieht, sind wir blamiert.«
In diesem Augenblicke kam von der andern Seite des Korridors Rosi Müller. Erstaunt sah sie auf die Belagerung der Glasthür. Die Mädchen mußten zurücktreten, um sie einzulassen.
»Wie könnt ihr euch nur so kindisch benehmen,« sagte sie sanft und vorwurfsvoll. »Ich begreife eure Neugierde nicht.«
»Du bist auch unsre ›Artige‹,« meinte Grete.
Rosi überhörte diese vorlaute Bemerkung. »Kommt, setzen wir uns an die Tafel mit unsren Handarbeiten,« fuhr sie fort, als das Gas angezündet war, »wir haben die Erzählung von Ottilie Wildermuth noch nicht zu Ende gehört. Willst du heute vorlesen, Orla?«
Aber es kam nicht dazu. Gerade als Orla beginnen wollte, trat Fräulein Güssow mit der kleinen Lilli an der Hand ein.
Sofort sprangen die Mädchen von ihren Plätzen auf und umringten dieselbe.