»Ein Kind muß bitten können! Und ein Mädchen vor [pg 70]allem. O Ilse! Auch du mußt es lernen, noch ist es nicht zu spät!« sprach Fräulein Güssow sehr erregt. »O Ilse, wenn doch meine Worte es vermöchten, dich so recht aus deiner Verblendung aufzurütteln! Lerne nachgeben, mein Kind, lerne vor allem dich beherrschen! Thust du es nicht, so nimmt das Leben dich in seine harte Schule und bereitet dir viel Herzeleid und Kummer. Glaube mir, Trotz und Widerstand sind böses Unkraut in einem Mädchenherzen, und oftmals überwuchern sie die besten, heiligsten Gefühle! Geh’ hinunter, Kind, bitte Fräulein Raimar um Vergebung. Ueberwindest du heute deinen harten Sinn, so hast du gewonnen für alle Zeit!«
Sie hatte warm und eindringlich gesprochen, und in ihren braunen Augen standen Thränen. Ilse war auch seltsam ergriffen von ihren Worten, aber Abbitte thun, – das konnte sie trotzdem nicht.
»Ich kann es nicht,« sagte sie zögernd, aber bestimmt.
»Du willst nicht, aber du mußt,« entgegnete Fräulein Güssow im höchsten Grade erregt. »Gott! giebt es denn kein Mittel, daß ich dich von deinem Starrsinn heilen kann!« –
»Komm, setze dich zu mir,« fuhr sie ruhiger fort, »ich will dir eine wahre Geschichte von einem trotzigen, widerspenstigen Mädchenherzen erzählen, das sein Lebensglück einer kindischen Laune opferte, und wenn du dann noch sagen wirst: ›Ich kann nicht,‹ dann gehe hin und folge deinem harten Kopfe, – ich werde nie wieder den Versuch machen, ihn zu beugen ...«
Noch niemals hatte jemand in einem so überzeugenden Tone zu Ilse gesprochen, derselbe verfehlte seine Wirkung nicht. Willig und gehorsam setzte sie sich der jungen Lehrerin gegenüber und sah erwartungsvoll und gespannt auf sie. Der häßliche, trotzige Ausdruck schwand aus ihrem Gesichte und wer sie jetzt sah, würde nicht geglaubt haben, daß diese Ilse und die andre, die sich vor kaum einer Stunde so wild und unbändig betragen, ein und dieselbe sei.
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Fräulein Güssow hatte den Kopf auf das Fensterbrett gestützt und blickte gedankenvoll hinaus in den Garten. Ihr blasses Gesicht hatte sich leicht gerötet und um den Mund lag ein schmerzlicher Zug. Es schien fast, als ob ein heftiger Kampf in ihr arbeite, als ob es ihr schwer werde, mit dem ersten Worte zu beginnen. Plötzlich erhob sie sich.
»Es ist hier so drückend und schwül,« sagte sie und öffnete die Fensterflügel.
Ein erquickender Luftzug strömte ihr entgegen, ein Gewitter war im Anzuge. Sausend fuhr der Wind durch die Wipfel der Bäume, in der Ferne grollte der Donner.
»Wie das wohl thut,« fuhr sie mit einem tiefen Atemzuge fort, »die Hitze lag mir schwer wie Blei auf der Brust. – Wie alt bist du, Ilse?« unterbrach sie sich plötzlich wie in halber Zerstreuung.
»Im nächsten Monat werde ich sechzehn Jahre.«
»Sechzehn Jahre!« wiederholte die Lehrerin, »dann bist du alt und auch verständig genug, denke ich, die traurige Geschichte meiner Jugendfreundin zu begreifen. Hör’ zu.
»Es war einmal ein junges, fröhliches Menschenkind, das mit seinen sechzehn Jahren die Welt zu erstürmen meinte. Vater und Mutter waren ihm früh gestorben und so kam es, daß die kleine Waise zu der Großmutter gegeben wurde, die sie erzog und von Grund auf verzog. Lucie, so wollen wir das Mädchen nennen, hatte nie gelernt zu gehorchen oder sich zu fügen, sie erkannte nur einen Willen an, und das war der eigene. Das war sehr schlimm für sie, denn bei manchen guten Eigenschaften des Herzens besaß Lucie einen häßlichen Fehler, den Trotz.