»Warfst du es absichtlich hierher?« richtete sie an Ilse die Frage, und ihre Stimme bebte vor Aufregung, in ihren [pg 66]stets so ruhig blickenden Augen blitzte es unheimlich auf. – »Antworte – ich will es wissen!«
»Ja,« sagte Ilse.
»Komm hierher und nimm es wieder auf!«
Die Heftigkeit der Vorsteherin machte Ilse nur verstockter, sie rührte sich nicht.
»Hast du verstanden, was ich dir befahl? Glaubst du mir trotzen zu können? Ich verlange, daß du mir gehorchst!«
»Nein,« entgegnete Ilse zum Entsetzen der anwesenden Pensionärinnen, »ich thue es nicht!«
Fräulein Güssow sah die Widerspenstige traurig und bekümmert an. Nicht Zorn, nur Mitleid empfand sie mit derselben. »Wenn ich dich ändern könnte! Wenn es mir gelänge, dich auf einen andern Weg zu bringen, armes, verblendetes Kind!« dachte sie und beschloß, nichts unversucht zu lassen, um Ilse von ihrem bösen Fehler zu heilen.
Solange sie Vorsteherin des Pensionats war, hatte Fräulein Raimar niemals Aehnliches erlebt. Trotz ihrer stets so maßvollen Ruhe war sie für den Augenblick fassungslos und ungewiß, was mit Ilse geschehen solle.
»Geh auf dein Zimmer,« befahl sie kurz, »und bleibe dort! Das andre wird sich finden.«
Ilse erhob sich und ging hinauf. Nachdem sie in ihrem Zimmer angelangt, brach der furchtbare Sturm, den sie mühsam zurückgehalten hatte, los. Sie warf sich auf einen Stuhl und weinte laut. Stürmisch rief sie nach ihrem Papa, daß er komme und sie holen möge – klagte die Mama an, die sie in diese fürchterliche Anstalt gebracht – kurz fühlte sich verzweifelt und verlassen, wie nie im Leben.
Allerhand Gedanken jagten durch ihren Kopf, der zum Zerspringen brannte, kindisch und unausführbar. Zuerst wollte sie davonlaufen, – wohin war ihr gleich, nur fort, damit sie die böse Vorsteherin, die stets einen Aerger auf sie gehabt, und die abscheulichen Mädchen, die sie verhöhnt hatten, von denen [pg 67]keine sie lieb hatte, nicht wieder sehe – niemals! Kein Mensch mochte sie leiden, nur der Papa. O, wenn sie gleich bei ihm wäre!
Der Gedanke, daß sie zurück müsse nach Moosdorf, behielt die Oberhand. Sie fing an, ihre Sachen aus der Kommode zu räumen und war eben im Begriff, das Mädchen zu beauftragen, ihr den Koffer vom Boden herabzuholen, als Nellie und gleich darauf Fräulein Güssow in das Zimmer traten.
Erstaunt blickte letztere auf die umherliegenden Sachen.
»Nun, Ilse, was soll denn das bedeuten?« fragte sie.
Anstatt zu antworten vergrub Ilse das Gesicht in beiden Händen und schluchzte laut.
Fräulein Güssow ließ sie einige Augenblicke gewähren, dann zog sie ihr leise die Hände vom Gesicht.
»Beruhige dich, Kind,« sprach sie in sanftem Tone, »dann will ich mit dir reden.«
»Ich kann nicht! Ich will fort!« stieß Ilse leidenschaftlich heraus.
»Du mußt dich beherrschen, Herz. Ich glaube gern, daß es dir schwer wird, dein trotziges Ich zu zähmen, aber du mußt es thun, es ist notwendig. Siehst du nicht ein, Ilse, wie unrecht, wie ungezogen du gehandelt hast?«
Diese schüttelte den Kopf. »Sie haben mich alle gereizt,« entgegnete sie abgebrochen schluchzend – »Fräulein Raimar hat mich so furchtbar blamiert – alle haben mich ausgelacht!«