Auf diesen schrecklichen Ruf eilten Sylvia, Rastignac und Bianchon nach oben. Sie fanden Madame de Restaud ohnmächtig. Nachdem sie sie wieder zu sich gebracht hatten, schafften sie sie in den Fiaker, der gewartet hatte. Eugen vertraute sie Therese an und trug ihr auf, sie zu Madame de Nücingen zu bringen.
»Ja, jetzt ist er wirklich tot«, sagte Bianchon, als er wieder herunterkam.
»Zu Tisch, meine Herren«, rief Madame Vauquer, »die Suppe wird kalt.«
Die beiden Studenten setzten sich nebeneinander.
»Was gibt es jetzt zu tun?« fragte Eugen Bianchon.
»Nun, ich habe ihm die Augen zugedrückt und ihn richtig gelegt. Wenn der Bezirksarzt den Tod festgestellt hat, den wir anmelden werden, wird man ihn in das Leichentuch nähen, und er wird beerdigt. Was soll sonst geschehen?«
»Er wird nicht mehr an seinem Brot riechen«, meinte ein Pensionär und machte die Grimasse des Alten nach.
»Sakrament noch mal«, sagte der Repetitor, »lassen Sie doch den Vater Goriot. Wir haben genug davon. Man hat ihn uns seit einer Stunde mit allen möglichen Soßen vorgesetzt. Es ist eines der Privilegien der guten Stadt Paris, daß man hier geboren werden, leben und sterben kann, ohne daß irgendwer acht darauf gibt. Freuen wir uns dieser Vorteile der Zivilisation. Es gibt heute sechzig Tote, sollen wir über diese Pariser Hekatomben jammern? Wenn Vater Goriot krepiert ist, um so besser für ihn! Wenn Sie ihn anbeten, wachen Sie bei ihm, aber lassen Sie uns andere in Ruhe essen!«
»Ja, ja«, sagte die Witwe, »besser für ihn, daß er tot ist! Es scheint, daß der arme Mann viel Kummer in seinem Leben gehabt hat.«
Das war die einzige Leichenrede für ein Wesen, das für Eugen zum Sinnbild der Vaterliebe geworden war. Die fünfzehn Tischgäste unterhielten sich wie gewöhnlich. Als Eugen und Bianchon gegessen hatten, packte sie das Entsetzen über das Klappern der Gabeln und Löffel, die lustige Unterhaltung, das sorglose Aussehen dieser gefräßigen und gleichgültigen Gesellschaft. Sie gingen fort, um einen Priester zu holen, der während der Nacht bei dem Toten beten und wachen sollte. Sie mußten bei diesen letzten Pflichten gegenüber dem Alten das wenige Geld, über das sie noch verfügten, gut einteilen. Um neun Uhr abends wurde die Leiche zwischen zwei Kerzen in dem kahlen Zimmer aufgebahrt, und der Priester nahm seinen Platz ein. Vor dem Schlafengehen erkundigte sich Rastignac bei dem Geistlichen nach dem Preis des Begräbnisses und der Seelenmesse. Er schrieb darauf an Herrn von Nücingen und Herrn von Restaud und bat sie, ihre Sachwalter zu schicken, um für die Kosten der Bestattung aufzukommen. Er entsandte Christoph mit den Briefen und legte sich dann, von Müdigkeit übermannt, schlafen. Am folgenden Morgen waren Rastignac und Bianchon gezwungen, selbst den Tod anzumelden, der gegen Mittag ko
nstatiert wurde. Zwei Stunden später hatten die Schwiegersöhne noch kein Geld geschickt, niemand ließ sich in ihrem Namen melden, und Rastignac war gezwungen, die Kosten für den Priester selbst zu bezahlen. Als Sylvia zehn Francs für die Einsargung des Alten und das Einnähen in das Leichentuch verlangte, rechneten Eugen und Bianchon aus, daß sie, wenn die Verwandten sich um nichts kümmern wollten, kaum für die Kosten der Bestattung aufkommen könnten. Der junge Mediziner legte daher selbst den Leichnam in einen Armensarg, den er vom Hospital kommen ließ, wo er ihn billiger erhielt.