Sie nahm ihre Freundin beim Arm und führte sie in den benachbarten Salon. Hier umschlang sie sie mit Tränen in den Augen und küßte sie auf die Wangen.
»Ich will Sie nicht so kalt verlassen, meine Teure, die Gewissensbisse wären für mich zu schwer. Sie können auf mich rechnen wie auf sich selbst. Sie waren groß heute abend, ich fühlte mich Ihrer würdig, und ich werde es Ihnen beweisen. Ich habe unrecht gegen Sie gehandelt, ich war nicht immer gut zu Ihnen, verzeihen Sie mir, meine Teure: Ich verurteile alles, was Sie verletzen konnte, und ich wollte, ich hätte meine Worte nicht gesprochen. Der gleiche Schmerz hat unsere Seelen vereinigt, und ich weiß nicht, wer von uns beiden die Unglücklichere sein wird. Herr von Montriveau war heute abend nicht hier, verstehen Sie? Wer Sie auf dem Ball gesehen hat, Clara, wird Sie niemals vergessen. Ich selbst werde noch einen letzten Versuch unternehmen. Wenn ich Mißerfolg habe, gehe ich in ein Kloster. Und wohin reisen Sie?«
»In die Normandie, nach Courcelles. Ich werde meiner Liebe leben und beten, bis mich Gott aus dieser Welt abruft.«
Ihr fiel ein, daß der Student wartete.
»Kommen Sie, Herr von Rastignac«, sagte sie mit bewegter Stimme.
Der Student beugte das Knie und küßte seiner Cousine die Hand.
»Adieu, Antoinette«, sagte Madame de Beauséant, »seien Sie glücklich.«
Dann wandte sie sich zu dem Studenten: »Ihnen braucht man dies nicht zu wünschen; Sie sind glücklich, Sie können noch an etwas glauben. Bei meinem Abschied von der Welt habe ich wenigstens, wie eine glückliche Sterbende, fromme und aufrichtige Wünsche um mich gehabt, die mich begleiten.«
Rastignac sagte Madame de Beauséant noch einmal Lebewohl, als sie schon in ihrer Reisekutsche saß. Er nahm den letzten tränenschweren Abschiedsgruß entgegen. Er lernte so, daß die Gesetze des Herzens auch über die höchstgestellten Personen gebieten und daß ihr Leben nicht ohne Sorgen ist. Um fünf Uhr morgens machte er sich auf den Weg; er ging zu Fuß bei feuchtem, kaltem Wetter zur Pension Vauquer zurück. Seine Erziehung ging ihrer Vollendung entgegen.
»Der arme Vater Goriot ist nicht zu retten«, sagte Bianchon, als Rastignac bei seinem Nachbarn eintrat.